Der Denkzettel

Es hatte ein vornehmer Mann die Gewohnheit, daß er seine besonderen Verrichtungen und Angelegenheiten in ein sonderliches Buch, so er aus seinem Studiertisch stets liegen hatte, zu verzeichnen pflegte, welches er täglich nach verrichtetem Morgengebet durchsah. Als nun einmal im Beisein Gottholds eine alte arme Wittwe bei demselben um einige Beförderung anhielt, und er selbige auch sofort in sein Büchlein schrieb, sagte Gotthold: So recht, mein Freund! vergesset die Nothleidenden und Betrübten nicht, Gott wird euer wieder nicht vergessen. Gott hat auch seine Bücher und Denkzettel, darin er unsere Namen, Begehren, Gebet, Seufzer und Thränen verzeichnet, Ps. 56, 9. 139, 16. Maleachi 3, 16. Ihr habt dieser Wittwe Noth und Bitte, um sie nicht zu vergessen, angezeichnet; versichert euch, daß Gott ein Gegenregister hält, und daß dieses euer Werk, weil es im Glauben geschehen, in Gottes Tagebuch schon eingeschrieben ist Am griechischen kaiserlichen Hofe zu Konstantinopel war vormals eine Bedienung, welche man vom Gedächtniß oder Erinnerung benamte, deren Amt war, die Namen wohlverdienter Leute, die sich zu Friedens- und Kriegeszeiten hatten tapfer gehalten, zu Register zu bringen und den Kaiser stets zu erinnern, daß sie mit gebührender Ehre und Belohnung anzusehen nicht vergessen würden. Allein dieses Amt ist zeitlich abgegangen und nicht mehr im Gebrauch gewesen. Im Himmel aber (wenn wir mit der Schrift von göttlichen Dingen menschlich reden wollen) ist es noch im vollen Gebrauch, und desselben bedient sich unser liebster Seelenfreund, der Herr Jesus, der zur Rechten Gottes sitzt und uns vertritt, Rom. 8, 34., der unser Fürsprecher ist, 1. Joh. 2, 1., und macht, daß unser bei seinem himmlischen Vater nicht vergessen wird. Ach, warum wollten wir denn nicht mit Freuden Gutes thun? Warum wollten wir nicht mit Lust einem so liebreichen Gott dienen, der auch für einen kalten Wasserstrunk, den Seinigen gereicht, unser Schuldner wird, Matth. 10, 42., und eine jede Gutthat als eine Einnahme in sein Buch und Register bringt? Wird denn schon die Gnadenbelohnung etwas verschoben, so wird sie doch nicht vergessen, und zu seiner Zeit wird der Höchste zeigen, daß er so ein ehrlicher Herr ist, daß ihm niemand jemals umsonst gedient habe. Ei, sprach der andere, mein Gotthold! ich müßte euch nicht oft zusehen lassen, wenn ich aus christlichem Herzen Gutes thue, ihr würdet mich hoffärtig machen! Gotthold antwortete: Nicht hoffärtig, sondern beständig und eifrig in guten Werken wollt ich euch gerne machen. Doch vergesset ihr, was ihr andern Gutes gethan habt, Gott wirds nicht vergessen.

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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