Der Christ ohne Kreuz

Eine vornehme, begüterte und gottselige Person klagte, daß ihr oft traurige Gedanken entständen, daher, weil die Schrift allenthalben den Christen und liebsten Kindern Gottes von vielem Kreuz predige und dessen Nutzbarkeit rühme, sie aber müßte bekennen, daß sie bisher nicht sonderlich viel Kreuz zu erfahren von Gott gewürdigt worden sei, daher sie oft zweifeln müßte, ob sie auch zur Zahl der lieben Gotteskinder gehörte. Gotthold sagte hierauf: Ich muß gestehen, daß mir dergleichen Klagen nicht viel vorkommen, weil entweder die Christen über Mangel des Kreuzes sich nicht beschweren dürfen, oder doch einem jeden, wenn er schon wenig oder gar nichts hat, dünkt, er habe so viel, als er tragen könne, und wissen vornehmlich die, so es nicht gewohnt sind, das ihrige für das größte zu halten. Was aber euch betrifft, sollte mich Wunder nehmen, ob ich denn nicht ein Kreuzlein für euch finden sollte. Ihr sagt, ihr plaget euch deßhalb mit traurigen Gedanken, daß ihr kein Kreuz habt, und eben diese traurigen Gedanken halte ich nicht für ein geringes Kreuz, maßen ihr denn eure Begierde und Verlangen dem Herrn Jesu ähnlich zu werden und ihm sein Kreuz nachzutragen damit bezeugt. Wenn auch unser hochverdienter Heiland so oft sagt: Wer nicht mein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach täglich, der kann mein Jünger nicht sein, der ist mein nicht werth, Matth. 10, 38., so ist solches nicht nur von den gewohnten Beschwerungen des menschlichen Lebens, sondern vornehmlich von der Kreuzigung des alten Menschen und der sündlichen Lüste und Begierden, von Verleugnung seiner selbst, von Zähmung seines Willens zu verstehen. Nun zweifle ich nicht, daß ihr täglich das klägliche Bild des gekreuzigten Herrn Jesu vor Augen habt und an ihm lernt, eurem Willen absagen, die Sünde meiden und dem Guten nachjagen, und hieran habt ihr eine hochnützliche Kreuzschule, und, wenn ihr darin euch fleißig übt, dürft ihr nicht sagen, daß ihr kein Kreuz habt. So wisset ihr auch, daß wir uns selbst kein Kreuz machen können oder sollen, (denn das pflegt auf Heuchelei auszulaufen), sondern Gott legt uns eine Last auf, Ps. 68, 20., und der Herr hat den Kreuzbecher in der Hand und schenkt aus demselben, wann und wie er will. Ps. 75, 9. Daß er euch nun bisher verschont, das erkennt mit demüthigstem Dank, weil vielleicht der Herzenskündiger wohl sieht, daß ihr nicht den Sinn zu ihm im Kreuz, als außer demselben haben würdet. Doch ist euer Lebensspiel noch nicht zu Ende, ihr könnt nicht wissen, was der liebe Gott noch für ein Kreuzlein bei Seite gelegt, das auf euch wartet und zu bestimmter Zeit niemand vor euch bekommen wird. Die schönsten Sommertage bringen oft auf den Abend die schwersten Gewitter, und, wenn der klare Wein verlaufen ist, pflegen wol die Hefen zu folgen. So danket abermals Gott, daß er euch Zeit gönnt, euch auf allen Fall zu bereiten und mit allerlei Nothdurft zur Gegenwehr euch zu versehen. Schließlich lebt ihr ja in der Gemeinschaft so viel hochbetrübter nothleidender, dürftiger und unter mancherlei Kreuz seufzender Christen, seid ihr nun ein Glied am Leibe des Herrn Jesu, so werdet ihr die Noth und Schmerzen eures Mitglieds fühlen und zu Herzen nehmen. Seht ihr demnach jemanden traurig, trauert mit ihm und tröstet ihn; seht ihr jemanden fallen und unter seiner Kreuzlast fast erliegen, bietet ihm die hülfreiche Hand und helft ihm wieder hervor; speiset die Hungrigen, tränkt die Durstigen, kleidet die Nackenden; habt ihr Ueberfluß, ersetzet damit anderer frommer Christen Mangel und machet euch also anderer Leute Leiden theilhaftig, helft ihnen ihr Kreuz tragen, wie Simon von Kyrene dem Herrn Jesu, Matth. 27, 32., so werdet ihr unter ihrer Gesellschaft als ein guter Kreuzträger mit durchgehen. Mein Herr Jesu! gieb mir das Herz deines Apostels, der da konnte niedrig und hoch, satt und hungrig, im Ueberfluß und Mangel sein. Phil. 4, 12. Verschonst du meiner, so dank ich’s dir und liebe dich brünstiglich; legst du mir denn ein Kreuz auf, so dank ich’s dir ebenfalls und liebe dich nicht desto minder. Was weiß ich’s, was mir dient? Du aber weißt alle Dinge, du weißt es.

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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