Der Blick in den Abgrund

H. Kemner erzählt:

Als ich vor einiger Zeit mit einem Freund eine Bergwanderung in den Alpen machte, trafen wir einen Gemsjäger. Er berichtete uns, dass in der Nähe einer der tiefsten Abgründe der Schweiz sei, und erbot sich, uns dorthin zu führen.

Unser Blick glitt in bodenlose Tiefe; wir konnten uns eines geheimen Schauderns nicht erwehren. Der Jäger forderte uns lächelnd zu einer Mutprobe auf, zu dem Versuch, so nah wie möglich an den Rand zu treten. Mein Freund folgte und versuchte, sich in langsamer Bewegung dem Abgrund zu nähern. Aber an einem bestimmten Punkt stoppte der Schritt. Im Gehirn setzte Blutleere ein. Er fing an zu zittern, und wir mussten ihn zurückführen. Als ich den gleichen Versuch unternahm, reichte die Energie einen Schritt weiter, aber dann war ich in gleicher Weise für den Abgrund vor mir anfällig wie mein Freund. Der Jäger erzählte uns dann, dass er schon viele Jahre geübt habe, einmal auf dem Grat zu stehen. Das sei ihm aber bisher mit aller Willensanstrengung nicht gelungen.

Das Gleichnishafte dieses Erlebnisses wird mir je und dann bewusst. Wie begrenzt sind doch die Kräfte unserer Erziehung, wenn wir vor den Abgründen des Lebens stehen. Eine gute Kinderstube, Berufs- und Standesethik in allen Ehren! Sie mögen in manchen Anfechtungen unseres Lebens bewahrende Kraft haben. Was geschieht aber, wenn der Sog der Versuchungen zu stark wird? Kennen wir das nicht auch, was Paulus im Römerbrief sagt: "Das Gute, das ich will, das tue ich nicht; das Böse, das ich nicht will, das tue ich." (Römer 7,19)? Wer steht so fest, dass er nicht beten müsste: "Führe mich nicht in Versuchung!"?

Mir ist gewiss geworden, dass es an dieser Grenze nur einen Erziehungsweg gibt, der hier wirksam hilft. Paulus bezeugt ihn in der Weihnachtsepistel: "Denn erschienen ist die Gnade Gottes, die allen Menschen das Heil bringt, indem sie uns dazu erzieht, dem gottlosen Wesen und den weltlichen Begierden abzusagen und besonnen, gerecht und gottselig schon in der gegenwärtigen Weltzeit zu leben." (Titus 2,11.12)

Quelle: Hört ein Gleichnis, Heinz Schäfer, Beispiel 227
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