Der Bettler

Es ward erzählt, daß man einen Bettler hätte angetroffen, der zwar bei Tage auf zwei Krücken sich lehnend als lahm und preßhaft umher gegangen und das Almosen mit kläglicher Stimme gesucht, abends aber in seiner Herberge, wo er seines Gleichen gefunden, die Krücken weggeworfen und wohl bezecht sich seiner gesunden Beine bedient und getanzt hätte. Wie sich nun männiglich hierüber verwunderte und ihn einen Betrüger, Dieb und losen Vogel hieß, sagte Gotthold: Meine Lieben! dieser ist der erste nicht, der um Geldes willen eine Betrügerei vornimmt, er wird auch der letzte nicht bleiben. Zu beklagen ist es, daß solch loses Gesindel nicht besser beobachtet und ihrem Muthwillen durch zulängliche Mittel nicht eifriger gesteuert wird. Es ist einer mit von den Schandflecken der heutigen Christenheit, daß man so viel Betrüger, Müßiggänger und gewissenlose Leute, die weder Gott, noch Menschen nütze sind, deren Arbeit ist, sich durchs Land betteln und, was erbettelt ist, versaufen, dabei in schrecklicher Unreinigkeit und Unflätherei leben, frei läßt passieren und ihrer muthwilligen Bosheit wider Gottes Wort und wider geistliche und weltliche Rechte nachsieht. Es ist eine unverantwortliche Nachlässigkeit von denen, die der Herr auf der Hut seines Hauses gestellt hat, daß sie so vieler getauften Menschen unordentlichem, unchristlichem, gottlosem Wandel zusehen und sie nicht zur Arbeit anhalten. Unser Erlöser trieb nicht allein die Käufer und Verkäufer aus dem Tempel und stieß die Tische der Wechsler und die Stühle der Taubenkrämer um, sondern er wollte auch nicht zulassen, daß einer etwas (ein unheiliges Gefäß, was zum Gottesdienst und in den Tempel nicht gehört) sollte durch denselben tragen. Mare. 11, 15. 16. Jetzt aber, da der christliche Eifer fast gar verschwunden ist, läßt mans gehen, wie es geht, man läßt die, so ihr Gefäß in Heiligung und Ehren zu behalten längst vergessen haben, immerhin durch die Christenheit lausen, Aergerniß geben, den rechten Armen das Brod vor dem Mund wegnehmen, ein schändliches Wesen treiben und in Sünden leben und sterben. O ihr Führer und Lehrer des Volks Gottes, welch eine Verantwortung wird dieses und viel anderes dermaleinst nach sich ziehen! Lasset uns aber, indem wir über andere eifern und klagen, unser selbst nicht vergessen! Meinet ihr nicht, daß dieser Betrüger seines Gleichen viel hat, auch unter denen, die das Ansehen nicht wollen haben? Ich will von weltlichen Dingen nicht sagen, da die Betrügerei, um Geld zu gewinnen, so gemein ist, daß man sie fast für ehrlich hält; es hilft nicht, daß es eine andere Art ist; wer um Geldes willen die Furcht Gottes, sein Gewissen und die Liebe des Nächsten aus den Augen setzt, der ist so wohl ein Betrüger, als dieser Bettler, wenn er schon in Sammt und Seide gekleidet einher geht. Bedenket, wie es in Kirchen zugeht! O wie gemein ist es da, daß wir uns bei unserm Gottesdienst andächtig, bei unsern Beichten betrübt und kläglich, bei unserm Abendmahlgehen sittig und züchtig stellen. Ach, ich bin ein armer Sünder, heißt es da, meine Sünden sind mir von Herzen leid, ich verlasse mich auf Gottes Barmherzigkeit, ich will mich gerne bessern. O wie kläglich thut da der Bettler, wie elend kann er sich stellen! Allein hab Acht auf ihn, wenn er aus der Kirche kommt, wenn seine angenommene Andacht und gezwungene Frömmigkeit vorbei ist, wenn er ihm selbst gelassen zur üppigen Gesellschaft wieder kommt, da ist sofort Sünde, Buße, Besserung, Himmel, Hölle und alles vergessen, da wird alle Andacht ersäuft und das Gewissen weggeworfen, da ist der arme Sünder nicht mehr kläglich, krank und elend, sondern frech, trotzig und unbändig. Es scheint fürwahr, als sei es dahin gekommen in der Christenheit, daß man meint, die Andacht, die Buße und Früchte der Buße gehören nur in die Kirche, und wo man etwa mit den Priestern muß umgehen; hernach aber könne das Christenthum wohl leiden, daß man seinen Willen habe, in der Welt mit der Welt lebe. Kurz, wir meinen, der äußerliche Schein sei genug, es komme um das Herz, wie es kann. Wir verwundern uns und zwar billig, daß man im Papstthum die Leute beredet, es wäre zur Seligkeit dienlich, eine Mönchskappe erkaufen und sich darinnen begraben lassen; wir sehen aber nicht, daß wir für die Mönchs- eine Heuchelkappe erwählt haben; damit verlarvt sich der größte Theil der Christenheit, darinnen stirbt er auch; gerade als wenn es eine so schlechte Sache wäre, eine neue Kreatur in Christo werden! Ach, Herr Jesu! keine Betrügerei ist gemeiner in der Welt, als daß die Menschen sich selbst betrügen; sie beschauen sich in dem Spiegel der Eigenliebe und meinen, weil sie ihnen selbst wohlgefallen, so müssen sie dir auch gefallen, da doch das Gegentheil wahr ist. Ach, laß mich deinen H. Geist in alle Wahrheit leiten und vor Selbstbetrug bewahren!

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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