Der bestohlne Baum
Gotthold ward von einem guten Mann in seinem Garten ein schöner junger Baum gezeigt, welcher, wie er berichtete, vor etlichen Jahren von einem losen Menschen bestohlen worden, als er voller schöner Aepfel gehangen, und seither keine Früchte getragen hätte. Daraus sagte er: Es ist höchlich zu verwundern, daß auch die Natur der Sünde so feind ist, daß ein solcher Baum um die Gewalt, so ihm widerfahren, gleichsam etliche Jahre trauern muß. Ein Dieb muß einen giftigen Odem haben, daß er mit seinem Anhauchen ein so junges Holz auf eine Zeit lang aller Kräfte beraubt, wo nicht vielmehr der Teufel aus demselben es thut, der in solcher That sein Herz besitzt und nicht gerne ohne das sieht, daß noch ein Apfel am Baum zu des Menschen Dienst und Erquickung hängt. So geht’s auch zu mit den großen, doch vermummten und verkleideten Dieben, die täglich die Armuth durch ihre Schinderei, Wucher und Uebersatz bestehlen. Wer ihnen unter die Hände kommt, der wird hernach nicht leicht auf- und zu Kräften kommen. Doch ist besser bestohlen, als bestehlen; ihr wißt nicht, wer diesen Baum bestohlen hat, und wir kennen nicht oder müssen nicht kennen die prächtigen und ehrbaren Diebe; Gott aber kennt sie beide, der wird sie zu finden wissen zu seiner Zeit. Denn so ein Dieb den Segen Gottes gleichsam verjagt und den Fluch bringt da, wo er kaum eine Viertelstunde hauset und das Gestohlene holt, wie vielmehr wird alles Gedeihen vor ihm fliehen und aller Fluch ihm folgen da, wo er allezeit ist und das Gestohlne einsammelt und verwahrt. Mein Gott! dein h. Bote hat wohl gesagt, daß der Geiz eine Wurzel alles Uebels sei, 1. Timoth. 6, 10., maßen er viele andere Sünden und auch viele Strafen gebiert, darum neige mein Herz zu deinen Zeugnissen und nicht zum Geiz! Ps. 119, 36.
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