Der Baum am Wasser
Gotthold ging bei stillem Wetter an einem See spazieren und ward gewahr, daß der Schatten des am Ufer stehenden Baums ihn so gar eigentlich abbildete und erinnerte sich dabei, daß ein sinnreicher politischer Schriftsteller sich dieses Bildes bedienet, seinem Fürsten die Abwechslung des Glücks und Unglücks vorzustellen und ihn bei glücklichem Fortgang seiner Rathschläge vor Sicherheit und Uebermuth zu warnen. Denn wie leicht es geschehen kann, daß ein Baum am Wasser stehend, der sich mit seinen belaubten und fruchtreichen Zweigen im Wasser spiegelt und, also zu reden, an ihm selbst Gefallen hat, von einem Sturmwinde umgeworfen wird und selbst im Wasser zu liegen kommt, so leicht kann es auch geschehen, daß ein Mensch, den Gott am Wasser gepflanzt, ich will sagen, den er an zeitlichen Gütern, Glück und Ehren hat groß und ansehnlich werden lassen, von einem widrigen Fall auf des Höchsten Verhängniß gestürzt und zu jedermanns Spott und Verwunderung niedergelegt wird; davon der königliche Prophet sagt: Ich habe gesehen einen Gottlosen, der war trotzig und breitete sich aus wie ein Lorbeerbaum; da man vorüber ging, siehe, da war er dahin, ich fragte nach ihm, da ward er nirgends gefunden. Ps. 37, 35. 36. Drum, wenn man satt ist, soll man gleichwohl denken, daß man wieder hungern kann, und wenn man reich ist, soll man denken, daß man wieder arm werden kann, denn es kann vor Abends noch wol anders werden, weder es am Morgen gewesen ist, und solches alles geschieht bald vor Gott. Sir. 18, 25. 26. Im weitern Nachdenken fand er auch in diesem Bilde eine Vorstellung der Flüchtigkeit der zeitlichen und der Beständigkeit der ewigen Güter. Das Wesen dieser Welt, sprach er, mit aller seiner Herrlichkeit, ist wie dieses Bild im Wasser. Mein Gott hat seine selige Herrlichkeit in den Geschöpfen entworfen, doch als im Wasser, ich will sagen, er hat alles mit Eitelkeit verbunden, daß der Mensch das Schattenwerk nicht lieben, sondern ein Verlangen nach dem himmlischen Wesen daraus schöpfen soll. Wie eitel ist des Baumes Bild im Wasser! Rege und trübe das Wasser, so ists dahin? so ists mit der Welt Dingen, eine geringe widrige Begebenheit zerschlägt und zernichtet alles; sind wir Menschen denn nicht thöricht, daß wir nach dem flüchtigen Schatten schnappen und denselben mit Gefahr unserer Seele suchen, um das beständige ewige Gut aber, das im Himmel für die Liebhaber Gottes behalten wird, uns so wenig bekümmern?
Alles, was ist auf dieser Welt,
Es sei Silber, Gold oder Geld,
Reichthum und zeitlich Gut,
Das währet nur ein kleine Zeit
Und hilfet nichts zur Seligkeit.
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