Der barmherzige Taglöhner
Ein Handwerksbursche ging unweit Pressburg in Ungarn in der grimmigsten Kälte, mit seinem Bündel auf dem Rücken, über die Heide. Seine Kleider waren dünn und seine Strümpfe zerrissen. Ihn fror sehr. Er weinte und die hellen Tränen froren ihm auf den Augenwimpern. "Lieber Vater im Himmel!", seufzte er, "weit und breit ist kein Dorf und keine Stadt, nicht einmal eine Köhlerhütte! Ich werde erfrieren, wenn Du mir nicht hilfst. Ach was wird meine arme Mutter anfangen! - Mein Vater ist schon tot, darum hat sie niemand mehr, der für ihren Unterhalt sorgt, um ihretwillen hilf mir."
Er wollte laufen, um sich zu erwärmen; aber seine Glieder waren starr. Er wurde schläfrig, legte sich in den Schnee auf sein Bündel und schlief ein. Ein Postknecht ritt vorbei und sah ihn starr daliegen. Da er indes noch einige Lebenszeichen an ihm bemerkte, ritt er schneller und zeigte es der Torwache der nächsten Stadt an. - "Was hilft's? Bis wir hinauskommen, ist er längst tot!", sagten die Gefühllosen.
Ein armer Tagelöhner aber, der gerade in der Wachtstube war, um sich zu wärmen, hörte es; er empfand herzliches Mitleid. Ohne ein Wort zu sagen, eilte er auf die Landstraße, trug den erstarrten Handwerksburschen in das nächste Dorf, rieb ihn mit Schnee, brachte ihn der Wärme immer näher und erweckte ihn endlich wieder zum Leben. Darauf nahm er ihn mit sich in die Stadt und teilte sein Zimmer und seinen Tisch, obgleich er selbst nicht viel hatte, solange mit ihm, bis letzterer imstande war, weiter zu reisen.
Der Tagelöhner hat das Wort: "Liebe deinen Nächsten als dich selbst" nicht nur gekannt, sondern auch geübt.
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