Der Bär und der heiße Honig

Im Mittelalter gab es ein schauriges Spiel, das manchmal von den Rittern zur Belustigung des Volkes gegeben wurde: In einem Burghof, der verschlossen war, hing über flackerndem Feuer ein Kessel mit siedendem Honig. Ein Bär, der in dem verrammelten Hof frei herumlief, wurde von dem Duft des Honigs mit Macht angezogen. Oben auf den Rängen saßen die vornehmen Damen und das schaulustige Volk. Der Reiz des Spiels bestand darin, zu sehen, wie der Bär an dem siedenden Honig leckte, dann aber mit verbrannter Schnauze jaulend davonlief. Aber obwohl er merkte, wie heiß der Trank war  -  es zog ihn immer wieder und immer näher an den Kessel heran. Endlich lag er, streckte alle Viere von sich und konnte kaum mehr Luft schnappen. Ein schauriges Spiel!
So ist es auch mit den Verlockungen und Reizen, die sich dem Menschen an allen Ecken und Enden anbieten. Er weiß, sie können sündhaft und gefährlich werden, aber ein unheimlicher Drang treibt ihn hin zu den bittersüßen Quellen. 

Quelle: Hört ein Gleichnis, Heinz Schäfer, Beispiel 157
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