Der arme und fremde Mann
Ein armer alter und fremder Mann war das Almosen zu suchen ausgegangen; weil er aber vor Mattigkeit nicht fort konnte, hatte er sich auf der Gasse an einer Mauer nieder- und sein Haupt auf einen erhabenen Stein gelegt. Gotthold traf ihn, als er seinen Verrichtungen nachging, unvermuthlich in solchem kläglichen Zustand an, und nachdem er ihm zugeredet, seines Zustandes sich erkundigt und ihn getröstet, versprach er ihm, auf Mittel bedacht zu sein, wie ihm könnte Hülfe geleistet werden, dazu sich denn auch bald gute Gelegenheit eräugete. Ach, sagte er hierauf, mein Gott! wie unerforschlich sind deine Wege! Und wie unbegreiflich sind deine Gerichte! wie theilst du doch so wunderlich aus! Einer lebt in großem Ueberfluß und hat allerlei Bequemlichkeit nach Wunsch und Willen, ein anderer liegt auf der Gasse und hat den Himmel zur Decke und das harte Pflaster zum Lager, da sie doch beide Menschen sind, ja der eine wol dein Feind, der andere dein Freund und liebes Kind ist Was habe ich, mein Gott! dir mehr gegeben, als dieser andere Lazarus, und was ist mein Vorzug? Nichts, als daß ich vielleicht mehr Sünde bei mir und mehr Gnade (was das Zeitliche betrifft) bei dir habe. Nun, mein Vater! ich will mir diese Begebenheit mit deiner Hülfe wohl zu Nutz machen. Dein Prophet spricht Ps. 41, 2: Wohl dem, der sich des Dürftigen annimmt, der Verstand und Nachdenken hat über die Elenden und Armen. Was bedarfs, sollte man meinen, viel Nachsinnens, wo man den kläglichen Zustand vor Augen sieht? Die Welt rauscht vorbei und denkt: wer weiß, was er für ein Landläufer ist? Wer weiß, ob er sich nicht selbst muthwillig in dies Elend gestürzt hat? Allein, ich weiß, daß zuweilen hohe Personen sich in schlechten Habit verkleidet haben, um die Gemüther der Ihrigen zu erforschen; ich weiß auch, daß mein Jesus sich unter dem Bettelmantel verbirgt, mein Herz auf die Probe zu stellen und zu entdecken, ob mir er oder mein Geld lieber sei. Nein, nein, mein Erlöser! du mußt mir so nicht vorbei. Verstelle dich, wie du willst, ich kenne dich doch! Ich will das Elend dieses Verlassenen zu Herzen nehmen und helfen, so viel ich kann; ich danke dir, daß du mich gewürdigt hast, vor meiner Thüre anzuklopfen und Hülfe von mir zu begehren! Es soll mir lieb sein, wenn du, Herr Jesu! ich und dieser Arme von einem Bissen essen und von einem Trunk trinken mögen. Vor solchem Mahl begehre ich mit keinem Könige Tafel zu halten. Ach, mein Erlöser! gieb mir nicht allein das Thun, sondern auch das Wollen, 2. Cor. 8, und laß dir mein armes Thun und Wollen in Gnaden gefallen! Jetzt kommst du vor meine Thür, bald komme ich vor deine Thür, ach, laß mir die Gnaden- und Himmelsthür nimmer verschlossen sein!
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