Der alte Vater

Ein alter Vater in Nürnberg hatte seinen sechs Kindern alle seine Habe ausgetan und hoffte, dass sie ihn nun vollends versorgen würden. Zuerst zog er zu seinem ältesten Sohn, bis dieser eines Tages zu ihm sagte: "Vater, wir haben ein Kindlein bekommen und seine Wiege sollte am Platz Eures Lehnstuhls stehen. Zieht doch zum Bruder, der hat eine größere Stube." Der Vater tat's; aber der Zweitälteste meinte bald, seine Stube sei zu kalt, er möge doch zum nächsten Bruder gehen, der ein Bäcker sei. Dieser wiederum hielt sein Haus für zu unruhig für den stillen Mann, und so wies er ihn an die Schwester, die auf der Stadtmauer wohnte. Aber bald war auch diese des Vaters überdrüssig und gab vor, es könnte ihm leicht auf der hohen, steilen Treppe ein Unfall begegnen - ob er's nicht bei der jüngeren Schwester versuchen wolle, die zu ebener Erde nahe der Pegnitz ihre Wohnung habe? Hier erschien's aber der zweiten Tochter zu feucht für den Vater und so schob sie ihn zur jüngsten Schwester ab, deren Mann Totengräber war. Da war's nun trocken und bequem; aber schon am zweiten Tag sprach das Söhnlein zum Großvater:
"Die Mutter sagte zur Base, für dich gebe es kein besseres Quartier als in einer Kammer, wie der Vater sie macht." Da brach dem Alten das Herz, und nun hatte er endlich seine Ruhe gefunden. Darum sagt das Sprichwort: "Ein Vater kann leichter sechs Kinder ernähren als sechs Kinder einen Vater."        
Aus: Caspar, "Geistliches und Weltliches."

Quelle: Er ist unser Leben: Beispiel- und Stoffsammlung für die Verkündigung, Martin Haug, 1941, Beispiel 1433
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