Das Windekraut, Zaunglocken

Als im Spazierengehen Gotthold gewahr ward, daß dieses Kraut in dem Roggen sich häufig fand, an vielen Oertern überhand genommen und das Korn, darum es sich gewunden, erstickt hatte, gedachte er: das ist ein Sinnbild eines gottlosen und ärgerlichen Freundes, der unter dem Schein aufrichtiger Liebe und großer Vertraulichkeit, damit er sich an einen hängt, ein Teufelsbote ist und einen Menschen zu gottlosem Wesen verleitet oder darinnen erhält. Seneca meldet, daß in Aegypten Mörder gewesen, die man Philetas oder die Freundlichen genannt, weil sie unter dem Schein freundlichen Umarmens die Leute erwürgt haben. So macht es ein ruchloser Freund auch; die Schrift sagt oft, wir sollen die Welt nicht lieb haben, uns von der Welt unbefleckt behalten, die Welt überwinden, u. s. w. Wir müssen aber solche Welt nicht nur bei unsern Feinden, sondern auch bei unsern Freunden suchen; oft ist die Welt die, so in deinen Armen schläft, oft ein Dutzbruder, ein Verwandter, ein Herzensfreund, ein Nachbar, welche öfter ein einfältiges Herz mit ihrer Schmeichelei und gemachten Vertraulichkeit zur Ueppigkeit, Hoffart, Pracht, Saufen, Spielen, Feindseligkeit und andern groben Sünden verleiten, und also wird ein Mensch, ja ein Freund, in Wahrheit einer des andern Teufel. Der Satan reizt und treibt nicht allein einen Feind, uns mit seinen Zunöthigungen, Lästern und Feindseligkeiten zu betrüben, sondern auch und zwar öfters einen Freund, uns mit seiner Beiwohnung und Freundlichkeit zu betrügen. Er weiß wohl, daß man die Angel mit einem dem Fisch angenehmen Aas verbergen und das freie Federwild mit Lockvögeln fangen muß; er selbst arbeitet im Herzen und macht demselben eine falsche Hoffnung von Vergebung der Sünden, von der Gnade Gottes und seiner großen Barmherzigkeit, von langem Leben, von der Seligkeit, und wird also, welches zu verwundern, bei den Seinigen aus einem Teufel ein Tröster; indessen arbeiten seine Gehülfen und liebe Getreue, die falschen Freunde, von außen und verhüten, daß ja das Herz nicht gerügt, sondern im stetigen Sause erhalten werde! O schädliches Windekraut! o gottlose, bezügliche Freundschaft, wie manche edle Seele erstickst und verdirbst du! Wie manchen führst du mit Freuden und Lachen in das ewige Heulen und Weinen! Mein Gott! ich bitte demüthiglich und herzlich, behüte mich vor mir selbst, vor bittern Feinden und vor falschen Freunden.

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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