Das weggeworfene Taschentuch

"Was soll doch diese Vergeudung?" (Mk. 14, 4)
Eine Tochter stand an dem Sarge ihrer Mutter und betrachtete zum letzten Male das geliebte Angesicht. Unter Tränen drückte sie den letzten Kuss auf ihre kalte Stirn und sagte ihr das letzte Lebewohl. - Eine Krankenpflegerin, die in den letzten Tagen die Mutter gepflegt, befand sich auch im Zimmer und wartete nur auf Gelegenheit, mit der Tochter sprechen zu können.
"Nur eine Bitte, Fräulein, möchte ich an Sie richten. Bitte, geben Sie mir noch ein Taschentuch, womit ich das Angesicht der Toten zudecken kann." 
Ein wirklicher Freudenstrahl glitt über das Gesicht der Tochter in dem Bewusstsein, ihrer lieben Mutter noch einen Dienst leisten zu können. Sie entfernte sich schnell und kam bald zurück mit einem fein gestickten Taschentuch, breitete es über die geliebten Züge und brach von Neuem in Tränen aus. Als die Krankenpflegerin das kostbare Tuch bemerkte, sprach sie: "Entschuldigen Sie, Fräulein, zu diesem Zweck genügt ein ganz einfaches Tuch; denn, wissen Sie, es wird doch mit in das Grab gesenkt und damit so gut wie weggeworfen." 
Verwundert und fragend blickte die Tochter die Krankenpflegerin an und sprach: "Weggeworfen? Ist das weggeworfen, wenn ich es meiner lieben Mutter gebe? - Ach, es ist wahr, Sie haben meine Mutter nicht gekannt." - Ja, so war es. Die Krankenpflegerin hatte die Mutter treu gepflegt, aber sie konnte nicht das Gefühl für die Kranke hegen wie die Tochter.
So war es auch mit Judas. Er liebte Jesus nicht, darum konnte er auch nicht die Frau mit der köstlichen Narde verstehen; er meinte, es sei Verschwendung. Jesus dagegen sah die Liebe und Dankbarkeit an, in der das Opfer gebracht wurde und er hatte Wohlgefallen an dieser Tat.
Es geht aber oft so im Leben, dass kaltherzige Menschen lieblos über andere urteilen, wenn diese etwas tun, was sie nicht verstehen können.

Quelle: Der ewig reiche Gott, Dietrich Witt, Beispiel 1038
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