Das Vorbild Otto Stockmayers

Wie oft wird unser Zeugnis entwertet durch Unwahrheit! Man spricht etwas aus, als hätte man es in Besitz, und man hat es doch nicht. Man tut so, als wäre man das, was man ausspricht, und es ist nicht wahr. Man redet von Sieg, und man hat Niederlagen.
Der gesegnete Pfarrer Otto Stockmayer (1838-1917) ist mir wegen seiner Wahrhaftigkeit zur Hilfe geworden. Einmal wurde er von einem Bruder etwas gefragt. Ich denke, es war irgendetwas von der Zukunft, etwas, was mit der Wiederkunft Christi oder dem Auftreten des Antichristen zu tun hatte. Und da antwortete Stockmayer: "Ich weiß es nicht."
Welcher Bruder hätte ihm das wohl nachgemacht? Ob da nicht jeder eine Erklärung zu geben sich bemüht hätte? Stockmayer scheute sich nicht zu sagen: "Ich weiß es nicht." Unsere Erklärungen und Auslegungen sind manchmal unwahr, wir wollen unsere Unwissenheit nicht zugeben. Wie viel mehr würde es der Wahrheit entsprechen, wenn wir ehrlich sagen würden:
"Ich weiß es nicht!"
Ein anderes Mal brach er im Reden ab und sagte: "Wir wollen einen Vers singen; ich habe den Faden verloren." Wer würde das sonst tun? Wer würde nicht einfach weiter und immer weiter reden? Stockmayer war umgürtet mit dem Gürtel der Wahrheit. Er wollte wahr sein in jedem Wort. Er gestand es lieber offen ein: "Ich habe den Faden verloren", als dass er ohne Faden weitergeredet und Worte gemacht hätte.
Ob nicht alle Prediger davon etwas lernen könnten? Und wie unser Reden durch Unwahrheit entwertet wird, so auch unser Beten. Bis ins Gebetsleben hinein geht vielfach die fromme Schauspielerei. Da betet man: "Herr, wenn noch was in mir ist, was dir nicht gefällt...?" Das klingt so fromm, als ob man von nichts etwas wüsste. Und was ist das? In vielen Fällen nichts anderes als Schauspielerei.
(Ernst Modersohn, 1870-1948)

Quelle: In Bildern reden, Heinz Schäfer, Beispiel 1276
© Alle Rechte vorbehalten