Das Vogelnest
Als Gotthold in einem Garten umher ging, sah er ein Vöglein daher fliegen, welches etliche Würmer im Schnabel führte, daraus er bald schließen konnte, daß selbiges an einem Ort sein Nest und Junge haben müßte, und als er ein wenig über Seite gegangen, ward er bald inne, wohin es sich wendete, und fand das Nest mit den Jungen nach wenigem Suchen. Hiebei erinnerte er sich, daß dieses Vöglein, welches mit Zuführung der Speise seine Jungen entdeckt hatte, ein artiges Bild gebe derselben Eltern, so viel Güter mit Recht und Unrecht zusammen bringen, ihren Kindern, wie sie sagen, zum Besten, wie aber die Erfahrung oftmals bezeugt, zum höchsten Schaden. Denn das übel erworbene Gut bringt nicht allein die Eltern um ihre Seligkeit, (wie denn ihrer viele, damit ihre Kinder mögen wohlleben, zum Teufel fahren), sondern giebt auch den Kindern Anlaß, entweder in der Eltern Fußstapfen zu treten und ihren Geiz und Ungerechtigkeit fortzusetzen, oder, was die Eltern mit Mühe und Verlust ihrer Seele erworben, mit Lust und Ueppigkeit zu verschwenden, welches beides ohne äußerste Gefahr ihrer Seelen nicht geschehen kann. Was hilfts, wenn die Eltern ihren Kindern Schätze sammeln, da an einem jeden Pfennig ein Blutstropfen und Thräne der Armen hängt? Wie schrecklich ist es, selbst zur Hölle fahren und den Kindern eine Brücke bauen, über welche sie spornstreichs hernach folgen mögen! Mein Gott! was soll ich meinen Kindern sammeln? Mein Vermögen ist gering, und von täglicher Nothdurft bleibt mir wenig über. Hilf, daß ich sie zu deiner Furcht gewöhnen, in Gottseligkeit, nothwendiger Wissenschaft und tugendhaften Sitten unterrichten, einen rühmlichen guten Namen ihnen hinterlassen und sie deiner Gnade und Segen ohne Unterlaß befehlen möge! Besser weiß ich sie nicht zu versorgen.
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