Das vergessene Geldstück

Johannes Kant, Professor und Doktor der Theologie in Krakau, war ein besonders heiliger Mann mit einem zarten Gewissen. Er war in seinem Amte bereits ergraut, als er eine unwiderstehliche Sehnsucht empfand, seine Heimat Schlesien noch einmal wieder aufzusuchen. Er ordnete zu Hause alle seine Angelegenheiten und machte sich dann auf die für sein Alter gar beschwerliche und ohnehin mit vielen Gefahren verbundene Reise, denn zu seiner Zeit gab es noch keine Eisenbahnen.
Bekleidet mit seinem schwarzen Predigerrock, mit langem Bart und Haar nach der damaligen Mode, ritt er langsam des Weges. Er kam durch die finsteren Wälder Polens, durch die kaum ein Sonnenstrahl zu dringen vermochte, aber in seiner von Gottes Geist erleuchteten Seele war es hell.
Als er eines Abends, ohne viel auf seine Umgebung zu achten, gerade innige Gemeinschaft mit seinem Gott pflegte, hörte er großes Getrappel im Walde und sah sich plötzlich von Männern umgeben; einige waren zu Pferde, andere zu Fuß. Messer und Schwerter glitzerten im Mondeslicht und der fromme Mann sah sich in den Händen von Räubern. Ohne recht zu wissen, wie ihm geschah, stieg er vom Pferde und lieferte sein Hab und Gut der Bande aus. Er gab ihnen eine mit Silbergeld gefüllte Börse, nahm die goldene Kette von seinem Hals, die Schnalle von seinem Hut, zog einen Ring von seinem Finger und gab ihnen desgleichen sein Taschengebetbuch, das mit Silber beschlagen war. Erst nachdem er ihnen alles ausgeliefert und zugesehen hatte, wie man ihm sein Pferd wegführte, bat Kant um sein Leben. 
"Haben Sie uns alles gegeben?", fragte der Räuberhauptmann drohend. "Haben Sie nicht mehr Geld?" - In großer Verwirrung sagte er, er habe ihnen alles gegeben und daraufhin ließ man ihn gehen.
Schnell eilte er vorwärts, als er mit seiner Hand von ungefähr plötzlich auf etwas Hartes im Saum seines Rockes stieß. Es war sein Gold, dass ihm in den Rock eingenäht worden war und das die Räuber deshalb nicht entdeckt hatten. In der Bestürzung hatte der heilige Mann Gottes diesen geheimen Schatz ganz vergessen. Sein Herz schlug vor Freude, denn das Geld würde ihn wieder nach Hause und zu seinen Freunden zurückbringen; und er sah Ruhe und Unterkunft vor sich, anstatt einer langen und beschwerliche Wanderung. Aber sein Gewissen war ganz besonders zart und er hörte auf dessen Stimme. Es rief in beunruhigenden Tönen einmal übers andere: "Sag keine Lüge! Sag keine Lüge!" Diese Worte brannten in seinem Herzen.
Freunde, Heimat, Verwandte - alles wurde vergessen. Er folgte der Stimme seines Gewissens und kehrte schnell wieder um. Er trat in den Kreis der noch am selben Platz befindlichen Räuber und sagte demütig: "Ich habe ihnen eine Lüge gesagt, aber es war nicht absichtlich; Furcht und Angst hatten mich ganz verwirrt, vergeben Sie mir deshalb!" Mit diesen Worten hielt er ihnen das glitzernde Gold hin. Aber zu seinem großen Staunen machte niemand Anstalt, es ihm abzunehmen. 
Ein sonderbares Gefühl hatte sich der Räuber bemächtigt. Sie konnten über des heiligen Mannes Einfalt nicht lachen. "Du sollst nicht stehlen!" sagte eine Stimme zu ihnen. Alle waren tief bewegt. Dann, wie von einem plötzlichen Drang ergriffen, ging einer hin und brachte ihm seine Geldbörse wieder, ein anderer hing ihm seine Kette um den Hals; ein dritter gab ihm das Gebetbuch wieder, während ein vierter sein Pferd herzubrachte und ihm dabei behilflich war, dasselbe wieder zu besteigen. Dann baten sie ihn alle um seinen Segen; er gab ihnen denselben in feierlicher Weise und ritt dann voll Lob und Dank gegen den gütigen Gott weiter seines Weges.

Quelle: Der ewig reiche Gott, Dietrich Witt, Beispiel 875
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