Das Veilchen
Als Gotthold im März ein Büschel der blauen Veilchen gegeben ward, ergötzte er sich an deren lieblichem Geruch und dankte seinem Gott, der so mancherlei Erquickung den Menschen gegeben hat, und nahm dabei ferner Anlaß zu nachfolgenden Gedanken: dies schöne und wohlriechende Blümlein kann mir gar artig ein demüthiges und gottseliges Herz abbilden, maßen es zwar an der Erde niedrig wächst und kriecht, nichts destoweniger aber mit der himmelblauen Farbe prangt und mit seinem edlen Geruch viele hocherhabene prächtige Blumen, als die Tulpe, die Kaiserkrone und andere weit übertrifft. So sind auch die niedrigen Herzen, welche zwar in ihren eignen und andern Augen schlecht und gering, doch aber dem von Herzen demüthigen Herrn Jesu ähnlich sind und desfalls die rechte Himmelsfarbe haben, auch andern, die sich ihrer geistlichen oder leiblichen Gabe halber erheben, von Gott weit vorgezogen werden. Wie auch der Apotheker dieses Blümleins Saft mit fließendem Zucker mischt und eine kühlende kräftige Herzstärkung daraus bereitet, so läßt der Höchste seine Gnade wie geschmolzenen Zucker in die demüthigen Herzen fließen, vielen andern zum Trost und zur Erbauung. Die tiefsten Brunnen haben das meiste Wasser, und die niedrigsten Gemüther die schönsten und nützlichsten Gaben. Was ist besser, als das Korn, welches dem Menschen die beste und meiste Speise, das Brod, giebt? Und dennoch, wenn es faul wird, ists mehr für Gift, als Speise zu halten. So gehts mit den Gaben des Leibes und Gemüths auch zu; so lange sie in der Furcht Gottes mit Demuth zum Dienst des Nächsten angewandt werden, sind sie eine liebliche Speise, werden sie aber vom Stolz und Eigendünkel angesteckt, so gerathen sie ihrem Besitzer und andern zum schadlichen Gift. Mein Gott! meine Ehre soll sein, daß ich nicht meine, sondern deine Ehre von Herzen suche. Ich begehre keine prächtige Blume zu sein, wenn ich nur dir und meinem Nächsten nützlich bin. Der ist hoch, nicht der hohe Gaben hat, sondern der seine hohen Gaben zu des Höchsten Preis mit niedrigem Gemüth recht braucht
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