Das unwillige Almosen

Als Gotthold bei etlichen wichtigen Verrichtungen geschäftig und daher voll tiefsinniger Gedanken war, kam sein Töchterlein unvermuthet zu ihm hinein und brachte ihm einer armen Wittwe schriftliches Zeugniß, darin ihres Elends Ursachen glaubwürdig verzeichnet waren, und erheischte für dieselbe ein Almosen. Darüber entrüstete er sich ziemlich und fuhr das Mägdlein mit harten Worten an. Bald aber besann er sich und sagte bei sich selbst: ich elender Mensch! wie großes Ansehen hat oft mein Christenthum bei mir selbst, und wie kühnlich darf ich sagen: Herr Jesu! du weißt alle Dinge, du weißt, daß ich dich lieb habe, und jetzt, da mein Erlöser kommt und ein geringes Almosen für diese arme Wittwe als eine wirkliche Bezeugung meiner Liebe begehrt, da laß ich mirs zuwider sein, daß er mir in meinen schlechten Gedanken eine kleine, doch selige Störung macht? Gehe nun hin und liebkose dich selbst mit deinem Glauben und der Gottseligkeit! Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb. 2. Cor. 9, 7. Das unwillige Almosen aber ist wie eine Rose, vom Schwefelgeruch entfärbt und verderbt, wie ein sandig und steinig Mehl, wie ein versalzenes und unschmackhaftes Gericht. Wer mit unwilligem Herzen und harten Worten Gutes thut, ist einer Kuh gleich, die Milch giebt und schlägt mit dem Fuß den Eimer wieder um. Eine Gutthat gegen die Armen soll sein wie das Oel, welches, wenn es aus einem Gefäß in das andere fließt, kein Geräusch macht, sondern lieblich und linde fällt. Mein Gott, du heißest mich kommen, wenn’s mir beliebt und meine Noth mich zu dir treibt, und ich komme niemals dir ungelegen oder zur Unzeit; du haft die Welt zu regieren und läßt dich nicht irren, wenn ich abends, morgens und mittags zu dir hinein rausche und ein Almosen von deiner Barmherzigkeit fordere. Was bild ich mir denn ein, daß ich meine Geschäfte und Gedanken höher, als meines betrübten Mitchristen Flehen und Seufzen achten wolle? Jetzt erkenne ich, daß die Sünde eine Uebereilung ist, und habe Ursache, hinfort mit mehr Freundlichkeit meinen Herrn Jesum in seinen Gliedern zu empfangen, damit er auch nicht, wenn ich seiner benöthigt, mir den Rücken zuwende.

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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