Das Stammbuch
Gotthold ward ein Stammbuch dargebracht, einen Denkspruch und seinen Namen darein zu schreiben, welches aber, wie er vermerkte, nicht der eigentliche Zweck des Besitzers war, sondern die Beisteuer, so er bei solcher Ehre erwartete. Gotthold dachte bei sich selbst: diese Art Bücher hat der rühmliche Eifer zur Tugend erfunden; denn, wenn ein edles Gemüth viele Oerter durchgereist, und hin und wieder gelehrte, erfahrne und große Leute angetroffen, so hats deren Gedächtnis? nicht leicht verlieren, sondern vermittelst ihrer eigenhändigen Schrift sich derselben versichern wollen, auf daß daheim, so oft es ihren Namen in seinem Buch ersehen würde, es Ursache hätte, sich und andere zur Nachfolge ihres Fleißes und Tugend anzufrischen. Dies hat gesehen die Armuth, der besten Gemüther beschwerliche Folgemagd, und, als sie vermeinte, hiedurch Gelegenheit zu haben, nicht allein in berühmter Leute Kundschaft zu gerathen, sondern auch ihrer Mildigkeit zu genießen, hat sie es nachgethan. Die Faulheit, welche sich gemeiniglich mit dem Bettelmantel deckt, hat sich solches auch zu Nutz gemacht, und ist es endlich zu dem Mißbrauch gediehen, den man hier vor Augen sieht. Das beste Stammbuch ist wol ein solches Gemüth, welches sich gelehrter, berühmter und gottseliger Leute merkwürdige Reden, wohlanständige Sitten und tugendhafte Thaten aufs festeste einbildet und denselben durch eifrige Nachahmung sich zu verähnlichen bemüht ist, wie denn auch, wenn die gottselige Einfalt mit stattfindet, eine christliche Matrone es nicht übel getroffen, die sich die vornehmsten Kernsprüche der Schrift und anderer geistreicher Männer hatte in ein Büchlein zusammengetragen, welches sie ihr Stammbuch zu nennen pflegte, welches sie oft durchblätterte und, wie sie sagte, niemals ohne besonderen Nutzen.
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