Das Spiel: die blinde Kuh

Gotthold kam dazu, als etliche junge Leute die blinde Kuh spielten. (Es ist ein Spiel, da einem die Augen verbunden werden, der dann so lange blindlings umher tappen muß, bis er einen von den Gespielen, die ihn hie und dort zupfen und hin und wieder stoßen, erhascht, der ihn alsdann ablösen muß.) Was meint ihr, sagte er, welches das gemeinste Spiel in der Welt sei? Gewiß eben dieses, welches nicht allein von Kindern und jungen Leuten, sondern auch von den Alten und Klugen allenthalben gespielt wird. Ich gedenke jetzt an eines weisen Mannes (Harsdörfer) sinnreiche Erfindung, der die menschliche Seele unter dem Habit einer Schäferin vorstellt, welche andere, so die Weisheit der Welt, den Reichthum und die Ehre, wie auch des Fleisches Sinn abbilden, zu Gespielen hat; von diesen wird sie beschwatzt, daß sie als zum Spiel sich die Augen verblenden läßt, nicht wissend, daß jene ein heimliches Einverständniß mit Trügewald (dem Satan) haben, der aus einem Gebüsch hervor wischt, also, daß ihm die Seele mit verbundenen Augen in die Arme läuft. Hiermit bildet er gar artig ab, wie der Mensch, von der Welt und seinem eignen fleischlichgesinnten Herzen verblendet, sich von Gott verläuft und in die Stricke des Teufels fällt, ehe ers meint. Ach, Herr Gott! wie viel tausend Seelen laufen mit verbundenen Augen, mit verblendeten Sinnen, mit verstockten Herzen, lachend, scherzend, spielend dem Teufel in den Rachen und in die Arme! Ach, wie viel kluge, gerechte, reiche, hochansehnliche Leute giebt es, mit welchen der Satan täglich blinde Kuh spielt, die doch nichts weniger denken oder besorgen! Wie manchem zieht die böse Gesellschaft die Kappe übers Gesicht! Wie manchem wird das Tuch vor die Augen gebunden von seinem liebsten Weibe, von seinen besten Freunden, von seinem nächsten Anverwandten! Und dies haben wir gern also, weil wir es ein Spiel, eine Lust, eine Freude, eine Liebe, eine Vertraulichkeit, einen Scherz heißen. Abner redet als ein blutdürstiger und gottloser Soldat, da er sagt: Laß sich die Knaben aufmachen und vor uns spielen, 2. Sam. 2, 14., da es doch vierundzwanzig jungen Helden das Leben kostete, darum er auch selbst bald hernach auf diesem blutigen Spiel durch Gottes gerechtes Gericht sein Leben zusetzen mußte. 2. Sam. 3, 27. So redet die Welt noch jetzt und hält das für Kurzweil, was doch die Seele in höchste Gefahr und gar ins Verderben stürzt. Dies ist ein Spiel, daran die Teufel ihre Lust sehen und den meisten Gewinn davon tragen. Ach, mein Gott, bewahre mich vor solchem Spiel! Gieb mir erleuchtete offne Augen durch deinen H. Geist, daß ich im Lichte wandle, des Teufels und der Welt bezügliche Spiele fliehe und durch alle ihre Stricke und Netze sicher hindurch komme! Du hasts bisher gethan, mein Vater! sie haben mich auch beredet, dieses Spiel mitzuspielen, du aber hast mir die Binde von den Augen gerissen und meine Seele gerettet. Dir sei Lob und Dank in Ewigkeit!

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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