Das Seufzen

Als Gotthold einen frommen Mann tief seufzen sah, sprach er: Was seufzt ihr? Jener antwortete: Ach, ich weiß nicht, ohne daß ich gleichwohl zu Gott seufze. Gotthold sagte: Freilich wissen wir oft nicht, was und warum wir seufzen, da doch immer ein Seufzer dem andern folgt, zuvörderst, wenn das Gemüth in heiligen Gedanken, gottseligen Betrachtungen, heimlichen Anliegen oder himmlischem Verlangen steht. Die Seufzer entstehen entweder aus Noth, und alsdann sind sie ein Geschrei in den Ohren Gottes, wie das Exempel Mosis bezeugt, als er am rothen Meer stand, dessen Seufzen Gott ein Schreien nannte. 2. Mos. 14, 15. Sie sind Boten des H. Geistes, die er aus unserm Herzen mit seiner kräftigen Fürbitte gen Himmel abfertigt, wie der Apostel lehrt: Wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sichs gebührt, sondern der Geist selbst vertritt uns aufs beste mit unaussprechlichem Seufzen. Röm. 8, 26. Oder sie entstehen in heiligem Nachdenken, und alsdann sind sie lauter Händeklopfen, Freudengeschrei und Jubiliren der frommen Seele, die Gottes Güte schmeckt und als von seiner süßen Gnade trunken jauchzt, wie der Prophet sagt: Mein Leib und Seel freuen sich in dem lebendigen Gott. Ps. 84, 3. Oder sie rühren her aus herzlicher Liebe zu Gott und sehnlichem Verlangen nach dem Himmel, und alsdann sind es eitel aufschlagende Funken und Flammen aus dem in heiliger Liebe Gottes brennenden Herzen, ja, ich darf sagen, so oft eine christliche Seele im Verlangen seufzt, so thut sie einen Versuch, ob sie aus dem Leib des Todes sich los wirken und gen Himmel sich schwingen könne, und sagt gleichsam allemal: O hätte ich Flügel! Ach, wann werde ich dahin kommen, daß ich Gottes Angesicht schaue! Ps. 55, 7. Ps. 42, 3. In den Seufzern der Gläubigen sind verborgen große Wunder und Geheimnisse; sie sind der Seele Flügel, damit sie sich zu Gott schwingt; sie sind ihre Arme, damit sie ihn lieblich umfängt und so fest hält, daß sie sagen kann: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. 1. Mos. 32, 26. Sie sind das wohlriechende Räuchwerk, das sie ohne Unterlaß vor Gott bringt; sie sind gegen das mündliche Gebet wie die goldene Münze gegen die silberne, welche, ob sie wohl so groß nicht ist, doch eben so viel und oft mehr gilt; sie sind geschwinder, als man ausdenken mag, und vereinigen , im Augenblick Himmel und Erde, Gottes Trost und Menschen Noth; sie sind die Lustlöcher der bedrängten Seele; sie kommen von Gott (dem H. Geist nämlich) und gehen zu Gott; Gott sammelt sie in seinen Schatz, verzeichnet sie in sein Buch, und gleich wie die Dünste, die von der Erde aufsteigen, zuweilen mit Regen zum Segen und Fruchtbarkeit, zuweilen mit Donner und Blitz wieder herunter fallen, also werden die Seufzer der gläubigen Herzen von Gott über sie mit Gnade und Segen, über die Gottlosen, ihre Feinde und Beleidiger mit Ungnade und Zorn wieder herabgeschüttet. Ja die Seufzer sind endlich der Wagen der Seele, darauf sie bei ihrem Abschied aus dem Leibe gen Himmel fährt, wie ein gottseliger Lehrer recht und wohl berichtet, sagend: Wenn der letzte Seufzer zu Gott geht, so kommt die Seele zu Gott und wird erhalten und wird erledigt von aller Angst und Noth, wie das Exempel des h. Stephanus ausweist, der mit seinem letzten Seufzer dem Herrn Jesu seine Seele zuschickte. Apostelg. 7, 59. Nun mein getreuer Gott! ich weiß bei dieser Betrachtung nichts mehr zu sagen, als dieses: in meiner letzten Noth,

Wenn ich nicht mehr reden kann, 
So nimm den letzten Seufzer an 
Durch Jesum Christum Amen.

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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