Das Scheibenschießen

An einem Orte hatten etliche junge Leute zu vergönnter Lust und Zeitkürzung sich eine Scheibe aufstellen lassen, wonach sie schossen und das Beste zu thun sämmtlich bemüht waren. Gotthold, als er in der Nähe vorbei ging, hörte das Schießen und geriet!) darüber in folgende Gedanken: diese Leute sämmtlich zielen und schießen nach dem Schwarzen, und ist doch kein Zweifel, daß die wenigsten ihren Zweck erreichen. So ist es mit unserem Christenthum und dessen Vollkommenheit beschaffen. Nach dem kläglichen Sündenfall haben wir Menschen nicht mehr eine gewisse Hand, wie die Schützen reden, sondern, ob wohl der Abriß göttlicher Vollkommenheit, das Gesetz, uns vor Augen als ein Ziel, nach welchem alle unsere Gedanken, Worte und Werke sollen gerichtet sein, aufgestellt ist, so schießen wir doch so oft ins Lerchenfeld nebenhin, daß unsere Vollkommenheit eine rechte Unvollkommenheit, ja, daß es für eine Vollkommenheit zu achten ist, wenn man seine Unvollkommenheit erkennt, bereut und täglich durch gottselige Uebung zu bessern beflissen ist, indessen aber seine Vollkommenheit in dem Herrn Jesu und dessen vollkommnem Gehorsam und Verdienst sucht. Dies Leben ist ein Wandel, darin man immerdar fortfährt, von Glauben in Glauben, von Liebe in Liebe, von Geduld in Geduld, von Kreuz zu Kreuz; es ist nicht Gerechtigkeit, sondern Rechtfertigung; wir sind nicht gekommen, dahin wir sollen, wir sind aber alle auf der Bahn und auf dem Wege, darauf sind etliche weiter und weiter fortgeschritten; Gott ist zufrieden, daß er uns in Arbeit und Vorsatz findet. Wenn nur auch ein Mensch mit dem andern zufrieden wäre, wenn einer bei der Scheibe hinschießt, der andere aber sie kaum an der Ecke berührt hat! Was verachten wir doch einer den andern, wenn einer etwas näher zum Ziel gekommen, der andere aber in der Uebung ist, es nachzuthun? Zeige mir einen, der allezeit die Scheibe getroffen und niemals gefehlt hat, ich will sagen, der allezeit und in allen Dingen das Beste erwählt hat, und ich will mich über ihn als einen Engel verwundern. Mein Gott, erhalte mein Christenthum in stetiger Uebung! denn Uebung bringt Zunehmen, Zunehmen bringt Vollkommenheit, so nicht eine solche, daran Menschen, jedennoch daran dir, du barmherziger und gütiger Richter! genügt.

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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