Das Raupennest

Man ward in Gottholds Garten an den Bäumen viel Raupennester gewahr und ward Anstalt gemacht, dieselben herunter zu bringen und die Bäume davon zu säubern; indessen sagte er: Sehet ihr, daß in der Welt nichts ist, das seine Widerwärtigkeit, Feinde und Anliegen nicht hat, entweder heimlich, oder öffentlich; keine Lust ist ohne Unlust, keine Freude ohne Leid. Diese Bäume haben ihre Früchte allererst mit Ueberfluß in unsern Schooß geschüttet, sie haben die Knospen aufs künftige Jahr schon wieder gesetzt, doch ihre Feinde sind auch schon da, und wenn das Laub wieder ausbricht und sie warme Luft verspüren, würden sie, so man ihnen nicht in der Zeit steuerte, sich überall vertheilen und die Bäume ihrer Zierde berauben. So ist es mit dem menschlichen Leben, es ist darum ein elend jämmerlich Ding vom Mutterleibe an, bis wir wieder in die Erde vergraben werden, die unser aller Mutter ist; da ist immer Sorge, Furcht, Hoffnung und zuletzt der Tod. Sir. 40, 1. 2. Sehr wohl hat ein berühmter Lehrer (Drelincourt) geschrieben: „Das menschliche Leben und das Elend sind Zwillinge, die zu einer Zeit geboren werden und zu einer Zeit in den Glaubigen und Gottseligen sterben. Der Mensch säht sein Leben an mit Weinen und endet es mit Seufzen; das erste Schreien hält man für ein Zeichen des Lebens, und der letzte starke Seufzer ist ein Gemerk des Todes. Du armer Mensch! Wie ist doch dein Zustand so elendiglich, zumal deine Freunde sich über dein Schreien erfreuen und sich bekümmern, wenn du aufhörst zu seufzen.“ Ist Lust, Reichthum, Ehre, Freude in der Welt, es fehlt auch an Sorge, Schmach, Widerwärtigkeit und Herzeleid nicht; findet sich das Laub, die Blumen und Früchte, es finden sich auch Raupen und allerlei Geschmeiß, die es verderben und verzehren. So ist es nun eine Thorheit, beständige Freude im Thränenthal und das Paradies in der Welt suchen wollen, sonderlich von einem Christen. Hierauf sagte ein anderer: Ich wüßte noch eins, das uns ein Raupennest gar schicklich vorbilden kann, nämlich ein gottloses Haus, eine ruchlose Schenke, eine Schule ohne nöthigen Zwang und Zucht, darinnen ein böser Mensch viel andere verleitet und ein Teufelskind viele andere macht und ausbrütet, daß oft in Eil das gottlose Wesen überhand nimmt und man nicht weiß, wie man ihm steuern oder rathen soll, und, ach leider! wie ist der heutige Kirchenbaum mit so vielen Raupennestern besetzt! Wie ist er fast aller Blätter und Früchte beraubt! Wie verbreitet sich die Atheisterei und das epikureische Sauwesen so schleunigst! Gott errette seine arme Kirche und säubere sie von solchem Geschmeiß! Gotthold fuhr fort: Dank haben die unfleißigen Gärtner, welchen Gott die Aufsicht über solchen Baum befohlen, daß sie nicht mit unermüdetem Eifer die Raupennester zerstören; doch wollen wir zur andern Zeit davon weiter reden, jetzt laßt uns nicht vergessen, daß ein jeder Mensch ein rechtes Raupennest in seiner Brust trägt, ich meine das fleischlich gesinnte, durch die Sünde verderbte Herz, darinnen die bösen Lüste, von der Erbsünde ausgebrütet, durch einander wimmeln, und, wenn ihnen nachgesehen wird, zum Verderben des Leibes und der Seele hervor kriechen; hier hat ein Christ genug zu thun, daß er immer steure und zerstöre, darum Luther sehr sehnlich spricht, er fürchte sich mehr vor seinem eignen Herzen, als vor dem Papst mit allen seinen Kardinälen. Und ein anderer gottseliger Mann sagte einmal zu mir: Mein eigen Herz macht mir mein Leben sauer und den Tod süß. Herr Jesu! hilf mir fleißige Acht haben auf dies Raupennest und seiner Lasterbrut mit allen Kräften steuern! Ach, wann willst du mich von mir selbst und meinem eigenen Herzen befreien und erretten!

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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