Das offene Glas
Gotthold hatte ein Glas, mit kräftigem Rosenwasser angefüllt, zur Benutzung hervorgelangt und aus Unvorsichtigkeit eröffnet stehen lassen; als er aber nach weniger Zeit wieder dazu kam, fand er, daß der schönste Geruch und meiste Kraft verloren und ausgeduftet war. Dies ist wol, dachte er bei sich selbst, eine recht bequeme Vorstellung eines weltlich-geneigten und zu allen Gelegenheiten offenen Herzens. Was hilfts, wenn ein solches zur Kirche getragen, und mit dem edlen Wasser der Paradiesrosen (die Sprüche der Schrift meine ich) gefüllt und zu ziemlicher Andacht bewogen wird, wenn hernach das Verbinden vergessen, ich will sagen, wenn das Wort Gottes in einem feinen guten Herzen nicht bewahrt wird. Luc. 8, 15. Was hilfts, viel hören und wenig behalten, und noch weniger darnach thun? Was hilfts, eine Andacht und gute Bewegung bei sich spüren, wenn nicht das Herz durch weiteres Nachdenken und fleißiges Gebet vermacht und von der Welt unbefleckt behalten wird? Ist das Herz der Welt offen, so verraucht das Edelste und Beste von der Andacht und wird nur ein unkräftiger Schaum im Herzen und Munde behalten. Ach, mein Herr Jesu! laß mich dein Wort, das lebendige Trostwasser, in mein Herz fassen! Fülle du es mit deinem Geist und deiner Gnade! versiegle es aber auch in meiner Seele, damit es stets in mir kräftig sein und bleiben möge!
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