Das neue Kleid

Ein Knäblein hatte ein neues Kleid bekommen und wußte sich gar viel darin. Gotthold sah dieses lächelnd an und sagte zu den Seinigen: Die menschliche Natur ist sehr ekelhaft; das Alte verleidet ihr bald, sie ist neusüchtig und verlangt immer ein anderes; so lange etwas neu ist, hat man mehr Lust dazu, als wenn es gewohnt und alt geworden ist. Nun spricht der Prophet, Klagl. 3, 23., die Barmherzigkeit Gottes sei alle Morgen neu, das ist, wo ichs recht verstehe, dem frommen und unvergleichlich gütigen Gott ists alle Morgen so neu, daß er uns an Leib und Seele Gutes thun soll, als hätte er uns noch nie Gutes gethan; er wird nicht müde, es wird ihm nicht alt, es ist seine Lust, wenn er soll seine Güte an uns beweisen. Ach, wenn es uns auch so neu wäre, ihm zu danken, und daß die ersten Seufzer und Worte, die des Morgens unsern Mund eröffnen, zu seinem Lob und Preis gerichtet sein möchten! wohin ohne Zweifel der königliche Prophet David sieht, sagend: Singet dem Herrn ein neues Lied. Ps. 33, 3. Er will sagen: lasset sein Lob nicht alt und ungeachtet bei euch werden, sondern laßt es euch immer so neu und lieb sein und dünken, als wäre dies das erste Mal, daß ihr euren Gott preiset; wie wir auch sehen, daß das Kind mit seinem neuen Kleide sehr behutsam sich hält, da es hingegen mit dem alten in aller Unsauberkeit sich wälzt, so laßt uns das Kleid der Gerechtigkeit Jesu Christi, damit er uns in der Taufe angezogen hat, ja nicht alt dünken, sondern, als zögen wir es alle Morgen neu und zum ersten Mal an, behutsam und vorsichtig wandeln, damit wir es mit muthwilligen Sünden nicht besudeln. Gar wohl sagt ein gottseliger alter Lehrer (Thomas a Kempis): Alle Tage sollen wir unsern guten Vorsatz zu allem Guten erneuern und uns selbst zum brünstigen Ernst der Gottseligkeit erwecken, als ob wir erst heute wären Christen geworden. Die neuen Knechte pflegen sich anfangs aller Willigkeit und Gehorsams zu befleißigen, damit sie nicht flugs zu Anfang ihrem Herrn eine böse Vermuthung von ihnen verursachen. Lasset uns alle Tage bei unserm Herrn und Gott aufs Neue in Dienst gehen und solchen Fleiß anwenden, ihm zu dienen und zu gefallen, als hätten wir noch nie ihm gedient oder gefallen, so wird er sich alles in Gnaden gefallen lassen. Mein Gott! du Brunn aller Güte! du bist eine rechte, edle und unerschöpfte Quelle! Je mehr man deine Güte schöpft, je frischer und mehr sie fließt. Du bist williger zu geben, als wir zu nehmen, Gutes thun ist dir so nahe, als wenn du heute erst hättest angefangen. Ach gieb, mein Gott! daß mein Herz ein Brunnen sei deines Lobes und Preises, dem es nimmer an Wasser fehle!

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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