Das Lamm im Brunnen

Ein Missionar in Indien schreibt: "Die ganze Nacht hindurch hatte ich beständig das Blöken eines Lammes gehört. Ich dachte, es sei ein törichtes Lamm, das von seiner Mutter weggelaufen und nun die ganze Nacht draußen geblieben sei. Gegen Morgen aber wurde der Ton immer erbärmlicher und hoffnungsloser. So ging ich denn bei Tagesanbruch hinaus und fand eine Menge Menschen an einem Brunnen stehen, aus dessen Tiefe der Hilferuf heraus erscholl. Der Hirte stand mit sehr traurigem Gesicht dabei und überlegte, wie er das Lamm am besten retten könne. Ich fragte ihn, ob er wisse, wie es in den Brunnen hineingeraten sei. 'Nein,' antwortete er, 'ich vermisste es gestern abend, als ich die anderen in Sicherheit brachte und ich bin die ganze Nacht draußen gewesen und habe es gesucht.' Der Brunnen war etwa vierzig Fuß tief und es ging an allen Seiten gleich steil hinunter. Am Grund stand nur eine kleine Lache Wasser, da es gerade die trockene Zeit war. Der Hirte sagte, er sei noch nie unten in einem Brunnen gewesen und so schlug ich ihm vor, sein Leben doch nicht aufs Spiel zu setzen, indem er sich hinunter wage. So ein Lamm sei doch nicht mehr als eine Mark wert. Da aber sah er mich beinahe wütend an und sagte: 'Aber ist mein Lamm und ich muss es retten.' So machte er sich daran, das Tier zu retten. Man half ihm, sich an einem Strick hinunterzulassen und als er drunten angelangt war, ließ man einen Korb hinab, um darin das Lamm hochzuziehen. Das Lamm wurde hineingelegt, sprang aber wieder heraus. Der Hirte musste ihm die vier Beine zusammen binden und als es jetzt noch nicht ruhig liegen wollte, zog er noch einen Teil seiner Kleider aus und band diese über den Korb. Nun wurde das Lamm sicher hinaufgezogen und stand zitternd da, bis der Hirte auch heraufgezogen worden war. Dann nahm der Hirte das Schäflein auf seine Arme und untersuchte es, ob es auch Schaden gelitten habe. Es zeigte eine Wunde und ein lahmes Bein, aber auf des Hirten Antlitz lag ein Blick tiefer Freude, als er es auf seine Schulter hob und heim trug."

Quelle: Der ewig reiche Gott, Dietrich Witt, Beispiel 898
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