Das Kreuz im Krankenzimmer

Der Mann war krebskrank. Im Endstadium. Die Schmerzen steigerten sich ins Unerträgliche. Nur harte Betäubungsmittel verschafften ihm noch einige Erleichterung, bewirkten aber auch eine Bewusstseinstrübung. Deshalb ertrug er lieber den Schmerz bis an die Grenze des Möglichen. Wenn man an seinem Bett saß, wurde man regelrecht in die Bitterkeit dieses Leidenmüssens mit einbezogen.
Eines Tages fand ich das Krankenzimmer verändert. Ein Bild des gekreuzigten Christus hing direkt dem Bett gegenüber, in dem der Kranke lag. Es war ein großes Bild, das in seinen Ausmaßen die Proportionen der Räumlichkeit sprengte und geradezu das ganze Zimmer beherrschte. Ich fragte den Kranken, warum er dieses Bild habe hierher hängen lassen. Darauf erklärte er mir, der Anblick dieses Bildes erleichtere ihm die Schmerzen, das Leiden und das Sterben. Unter dem Kreuz Jesu standen zwei weinende Frauen und der Jünger Johannes. "Und da ist noch Platz für einen Vierten, für mich", meinte der Kranke. "Wenn ich meine Schmerzen nicht mehr aushalte, dann schaue ich auf den Gekreuzigten, der noch größere Schmerzen ertragen musste. Er konnte seine angenagelten und schmerzenden Arme und Füße nicht bewegen. Ich kann es und kann meine Lage verändern. Er hing mit seinem ganzen Körpergewicht in seinen Wundmalen. Ich liege in einem weichen Bett. Ihm gab man keine Linderung. Auf meinem Nachttisch aber stehen viele Dinge, die mir die Schmerzen erträglicher machen. Wenn ich dies alles vergleiche, dann merke ich, dass es mir noch gut geht. Und das hilft mir, meine Situation durchzustehen."
Es war bemerkenswert, was im Laufe der folgenden Wochen in dem Kranken vorging. Die Schmerzenslaute, die man sonst schon im Hausflur hören konnte, wurden seltener und leiser. Dies war nicht nur ein Zeichen der Schwäche, sondern es hing mit diesem Bild zusammen. Der Kranke hatte für seine Umgebung nicht mehr viel Aufmerksamkeit übrig. Seine Augen hingen so stark am Bild des Gekreuzigten, dass ich den Eindruck hatte, hier war eine tiefe und heilsame Leidensgemeinschaft und Verschmelzung zu Stande gekommen, die weit über das menschliche Begreifen hinausging. Er starb im Blick auf dieses Bild.
(Karl Frey)

Quelle: In Bildern reden, Heinz Schäfer, Beispiel 1124
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