Das Hirschkalb
Als Gotthold ein Hirschkalb, welches in der Stadt zur Lust mit Mühe und Kosten erzogen wurde, sah, dachte er bei sich selbst: dies Thierlein, ob es ihm wohl an Aufsicht und Nahrung nicht fehlt, wird doch schwerlich so wohl gedeihen und fortkommen, als wenn es bei seiner Mutter im Walde geblieben ware; denn ich weiß nicht, wie es kommt, daß die wilden Thiere im Walde, die Vögel in den Gebüschen, die Fische in den Strömen und Seen besser gedeihen, als die zahmen in den Ställen, Häusern und Teichen, ob schon diese mehr in Acht genommen, gepflegt und gehegt werden, als jene. Eben so gehts mit den Kindern armer Leute zu, ob sie wohl bei weitem solche Speise, Kleidung und Wartung nicht haben, als der Reichen, wie man ja oft sieht; die Kinder der Bauersleute auf dem Lande springen mit bloßem Haupt, bloßer Brust und Füßen daher, frisch und gesund, daß sie ihr Stücklein Brods, darauf die Butter kaum zu sehen ist, mit dem besten Gebratenen nicht vertauschten, da hingegen oft reicher Leute Kinder elende Siechlinge bleiben und ungeachtet aller Pflege nicht fort wollen. Allein hiebei ist eine höhere Hand! Der Höchste will damit zeigen, daß seine Pflege und Fürsorge die beste fei, und daß man alles Gedeihen, Gerathen und Aufkommen mehr aus seinen, als aus der Menschen Händen erwarten müsse. Was trauern wir denn so sehr, wenn wir nicht aller Mittel nach unserer Rechnung versichert sind? Wenn das besser geräth, was Gott in Acht hat, als was der Mensch, warum ergeben wir uns auch nicht herzlich und gänzlich seiner Fürsorge? Oder vermeinen wir, daß ihm an solchen Thieren mehr, als an uns Menschen gelegen? Mein getreuer Gott! deine Treue hat niemand, der dir getraut, betrogen, und dennoch traut man dir so wenig! Wir Menschen trauen uns selbst, dem Golde, der Welt, ja wohl gar dem Teufel, und mein allerliebster Gott! dir können wir so übel trauen! Ich schäme mich, daß ich von solchem Thier solche Kunst lernen muß.
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