Das Härlein in der Uhr
Matthias Claudius schreibt in einem Brief an seinen Vetter Andres, dessen Uhr stehengeblieben war, weil, sie sich beim Uhrmacher herausstellte, ein winziges Härchen seines Kindes in die Uhr geraten war und sich um ein Rädchen gewickelt hatte: Du hast doch wohl schon gesehen, wie eine Spinne ihr Netz ausspannt hat. Eine Fliege fährt dagegen. Man denkt, sie führe unbehindert hindurch. Aber die dummen Fäden halten sie fest, und ehe sich's versieht. Sitzt ihr die Spinne im Nacken und wickelt einen Faden um die surrenden Flügel. Da ist sie gefangen und ist ein Opfer der Spinne. Merkst du was, Andres? Das Härchen, das die Uhr anhält und die Flügel umwickelt, das legt sich zuweilen auf unsere Seele. Ein Zweifel, ein verzagter Gedanke wickelt unsere Seele ein; dann lässt sie ihre Flügel hängen; sie können nicht mehr surren. "Vater", sagen die Kinder, "wir wollen ein Lied singen", aber du kannst nicht mehr singen. - "Vater, erzähle uns noch einmal, wie der liebe Gott die Tiere und Vögel erschaffen hat und mit dem Farbkasten bunt bemalt hat und den Buchfink zuletzt", aber du kannst das ja nicht erzählen. Dann gehe hin zu dem Uhrmacher, Andres, lass dir das Härchen, welches das Räderwerk hemmt, lass dir den bittern Gedanken wegnehmen, welcher deine Seele umsponnen hat, damit ihre Flügel wieder schwirren können. Du weißt, wer der Künstler ist, "dass wir auffahren mit Flügeln wie Adler, dass wir laufen und nicht matt werden, dass wir wandeln und nicht müde werden."
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