Das Großglas

Ein guter Freund hatte ein elfenbeinernes Büchslein mit zwei Gläslein also zugerichtet, daß, wenn man ein kleines Thierlein, eine Mücke, Mite oder ander Ungeziefer hinein setzte und es durch das kleinere und oberste Glas besichtigte, es einem gar groß vorkam und man alle Glieder desselben, wie subtil sie auch waren, gar eigentlich mit Lust betrachten konnte. Kehrte man’s aber um und sah durch das größere Glas, so hatte es kein anderes, als das gewohnte Ansehen. Gotthold sah dieses mit sonderbarer Ergötzlichkeit und sagte: Ich weiß dieses künstliche Büchslein mit einem Namen zu deutsch nicht anders, als das Großglas zu nennen, weil es also zugerichtet ist, daß es alles größer, als es ist, dem Gesicht darstellt. Ich halte aber, daß aller hoffärtigen Heuchler Herzen also auch müssen beschaffen sein; wenn sie ihre eignen Sachen, ihre Tugenden und Vermögen bedenken, so sehen sie durch ein Glas, welches die Selbstliebe so künstlich bereitet hat, daß ihnen alles groß vorkommt und sie meinen, Ursache genug zu haben, daß sie sich ihrer großen Gaben erfreuen und rühmen. Wenn sie aber auch ihren Nächsten und was an dem gut ist, zu betrachten haben, so kehren sie das Büchslein um und finden nichts Sonderliches, sondern alles klein und gering. Hingegen ihre Fehler und Laster beschauen sie durchs gemeine Glas und halten sie für unbedeutend, des Nächsten aber besehen sie von der andern Seite und machen aus einer Mücke einen Raben, und aus einer Laus einen Elephanten. Und dies ist der größte Betrug in der Welt, daß der Mensch sich selbst mit gutem Willen betrügt und sich also wissentlich zur Hoffart und Hochhaltung sein selbst und zur Verachtung seines Nächsten verleibt. Meint ihr nicht, daß jenes Pharisäers Herz also sei beschaffen gewesen, der sich selbst für einen großen Heiligen, den Zöllner aber für einen lebendigen Höllenbrand hielt? Der ist zwar gestorben, hat aber sehr viel Nachkömmlinge hinterlassen, und sein Geschlecht hat sich sehr gemehrt und in alle Welt ausgebreitet. Ich halte dafür, daß niemand sei, der nicht zuweilen eines solchen Büchsleins auf vorbesagte Weise gebrauche, und daher entsteht alles Unheil in der Welt, denn weil wir uns selbst groß, den Nächsten aber gering achten, so vermeinen wir, daß wir nichts, er aber alles zu leisten schuldig sei; hieraus erwächst Ruhmräthigkeit, Verschmähung, Zorn, Haß, Muthwillen u. dgl. Darum erinnert Gottes Wort, daß niemand weiter von ihm halten soll, als sichs gebührt zu halten, Röm. 12, 3., und sagt klärlich, so jemand sich läßt dünken, er sei etwas, so er doch nichts ist, der betrügt sich selbst. Gal. 6, 3. Mein Gott! ich erkenne, daß die eigne Liebe und der daraus entsteht, der Selbstbetrug, die Thüre des Himmels verschließen und einen als im süßen Traum der Hölle zuführen. So gieb, daß ich nicht mir und meinem Wahn, sondern dir und deinem Wort folge! so werd ich nicht irren können.

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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