Das gestohlene Brot
Ein Kriegsgefangener arbeitete halb verhungert bei einer Bahnarbeiterkolonne, zusammen mit einer Gruppe russischer Zivilisten, darunter auch einigen Frauen. Niemand hatte viel zu essen, jeder arbeitete um sein Leben.
Da geschah es eines Tages, dass er unbeaufsichtigt in die Nähe einer Stelle kam, an der eine der russischen Arbeiterinnen ihr tägliches Bündel mit dem kärglichen Proviant abgelegt hatte. Er sah sich um, und da er sich unbeobachtet fühlte, sprang er mit zwei Schritten zu jener Stelle und riss, halb irr vor Hunger und Aufregung, aus dem Bündel ein Stück dunklen Brotes an sich. Als er aufblickte, sah er in einer Entfernung von gut dreißig Schritten die russische Frau regungslos stehen, der das Bündel gehören mochte: Sie sah starr zu ihm her.
Er drehte sich um, kehrte ihr den Rücken zu und ging schleppenden Schrittes zurück zu seinem Arbeitstrupp, jeden Augenblick darauf wartend, dass drüben bei den russischen Arbeitern das Geschrei ausbrechen und die Frau ihn zur Rechenschaft ziehen würde. Aber nichts geschah. Er bemerkte nur, dass nach einiger Zeit die Frau ganz ruhig zu ihrem Bündel ging, es untersuchte und dabei mehrmals auf ihn blickte. Aber sie unternahm nichts. Der Tag verging, ohne dass etwas geschah. Der Mann aß das gestohlene Brot, ohne dass einer etwas bemerkte, der Abend kam, der lange Marsch ins Lager zurück, die Nacht verging und der andere Tag, aber nichts geschah.
Da wusste jener Mann, dass er vor Strafe und Verurteilung bewahrt blieb, weil jene Frau, die ihn und die er nicht kannte, schwieg. "Das war das Wichtigste, was ich erlebt habe in jenen Jahren", so berichtete er später. "Seitdem weiß ich, was Vergebung ist. Ohne diese Vergebung wäre ich wohl nie mehr zurückgekehrt. Aber da war ein Mensch, der sich meiner erbarmte, ohne dass ich es wert war. Diese Liebe hat mir das Leben gerettet."
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