Das Geschrei im Mutterleibe

Es ward glaubwürdig berichtet, daß ein Kind unter mütterlichem Herzen laut und vernehmlich geschrieen hätte, welches als ein Ungewohntes allen, die es gehört, einen Schrecken eingejagt. Gotthold ward darüber gefragt, was er für Gedanken darüber hätte. Er antwortete: Daß Kinder im Mutterleibe geweint oder geschrieen, ist mehrmals erhört und von den Geschichtsschreibern unter die merkwürdigen Sachen verzeichnet worden und ist’s fast allezeit als eine Vorbedeutung großen Unglücks und Trübsal aufgenommen. Nur etliche gelehrte Naturkundige und Aerzte haben dafür gehalten und auch wol sattsam erwiesen, daß es natürlich sei, und vermeinen also, daß es nicht eben eine böse Anzeigung sei, maßen denn den nunmehr zur Geburt fast zeitigen Kindern kein Werkzeug der Stimme fehle und daher es fast nicht mehr zu verwundern, wenn es seine Stimme gebrauche, als wenn ein Küchlein im Ei sich melde, und also habe man sowohl wegen des einen, als des andern nicht sonderlich Böses zu befahren. Allein, wie ich mich gern bereden lasse, daß es natürlich sei, also will ich auch hoffen, daß verständige Leute gern nachgeben werden, daß auch natürliche, doch nicht fast gewohnte Dinge dem lieben Gott die Welt zu warnen und an bevorstehendes Unglück zu erinnern dienen müssen, wie man denn auch nicht in Abrede sein kann, daß zum wenigsten der ungebornen Kinder Geschrei, entweder der Mutter allein, oder wol zuweilen der Mutter und ihrer selbst kläglichen Tod bei bevorstehender Geburt zuvor angezeigt hat. So bezeugen es auch die vorhandenen alten und neuen Geschichtsbücher, daß solche Kinder mehrmals ein großes Unglück, so über einer Stadt, einem Land oder Regiment geschwebt, zuvor beweint und mit ungewohntem Geschrei angemeldet haben. Darum halte ich dafür, man habe dies nicht so liederlich zu achten und in den Wind zu schlagen, sondern beseufze billig, was die Kinder im Mutterleibe bewinseln, die Bosheit und Unbußfertigkeit der Welt, welche sich nunmehr nichts sagen läßt, und wenn auch alle Kreaturen Blut weinten. Ich vermeine, es diene mit zur Erläuterung der Worte des Apostels, der da sagt, daß alle Kreaturen nebst den Kindern Gottes sich sehnen und immerdar ängsten. Röm. 8, 22. Bedenket dieses: den Kindern graut, daß sie ihren Fuß in die böse Welt setzen und das sündliche ärgerliche Wesen anblicken sollen, und weil sie wenig Freude darinnen zu erwarten haben, werden sie klägliche Propheten ihres bevorstehenden Elends; wir Alten aber, die wir ja nunmehr die Welt kennen sollten, haben nicht Lust, dieselbe zu verlassen und die schnöde Eitelkeit mit der seligen Ewigkeit zu vertauschen. Die Kinder im Mutterleibe weinen und wir lachen. Die Unschuld winselt und ängstigt sich, die verruchte Bosheit aber ist frech und sicher. Mein Gott! wo man sich hinwendet, findet man mehr Ursach zum Weinen, als zum Lachen. Eins ist, das mich fröhlich macht, daß in dieser Welt alles zeitlich und vergänglich, bei dir aber Freude die Fülle und liebliches Wesen zu deiner Rechten ist immer und ewiglich. Ps. 16, 11.

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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