Das gepflegte Grab eines schlimmen Mannes

Mit ihrem Onkel, dem originellen Bauerndoktor H. Hesse in Weißenstein, wanderte Monika Hunnius einmal hinaus zum Friedhof. Der Onkel kannte sie alle, die hier lagen, und wusste  von jedem zu erzählen. "Hier", sagte er, "sieh dir dieses Grab an. Hier liegt ein Mann, der seiner Frau viel Herzeleid bereitet hat. Sie hatten sich lieb, als sie sich heirateten. Dann fing er an zu trinken und verlor seine Stelle. Sie erwarb mühselig für sich und ihr Kind, was sie brauchte; zuletzt arbeitete sie auch für ihn, denn er erwarb nichts. Nun ist er seit Jahren tot, ihr Sohn erwachsen. Siehst du, wie schön gepflegt dieser Hügel ist? Sie hat Jahre gespart, gedarbt, bis sie ihm das Kreuz hat auf sein Grab setzen können. Lies, was auf dem Sockel des Kreuzes steht!"
Ich beugte mich vor und las: "Die Liebe höret nimmer auf." Ich aber fühlte keine Rührung, mein junges Herz war voller Empörung; ich schwieg.
"Das war eine Christin", sagte er dann ernst, "und eine echte Frau!"
"Eine schwache Frau", sagte ich empört mit der ganzen Strenge meiner ahnungslosen achtzehn Jahre.
"Mein Kind", sagte der Onkel, "möge Gott dich einmal auch so lieben lehren! Das ist das Größte, was du lernen kannst!"
"Aber lieben heißt doch: Ehren und bewundern", sagte ich. "Davon sagt die Bibel nichts!", erwiderte der Onkel. "Lieben heißt lieben und damit Punktum."

Quelle: Hört ein Gleichnis, Heinz Schäfer, Beispiel 457
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