Das Gefühlsleben folgt dem Willen oft nur langsam

Eine junge Dame, die zu mir in die Seelsorge kam, war bis über beide Ohren verliebt. Aber es wurde ihr immer klarer, dass der junge Mann nicht der Richtige für sie war, weil echte Glaubensspannungen aufgetreten waren, die sie für unüberwindlich hielt. Deshalb schrieb sie ihm einen Brief, sie sprachen sich aus, und dann brach sie die Verbindung ab. Einige Tage später kam sie tränenüberströmt, niedergeschlagen und ganz außer Fassung zu mir. Was war passiert? Nun, sie hatte einige wohlmeinende Freundinnen, die ihr versicherten, dass bei ihr etwas im Glaubensleben nicht stimmen könne, sonst hätte sie keine solchen inneren Kämpfe. Sie weinte viel, konnte nicht arbeiten und sich nicht auf ihr Studium konzentrieren. Sie wusste, dass sie recht gehandelt hatte, und hatte nicht die leiseste Absicht, ihre Entscheidung rückgängig zu machen. Doch ihre Gefühle bereiteten ihr große Not. Anstatt ihr zu helfen, ihre Last zu tragen, hatten ihre wohlmeinenden, aber falsch unterrichteten Freundinnen ihrem schon überbelasteten Herzen eine weitere Verschuldung auferlegt. Ich sagte zu ihr: "Liebe Frau, natürlich dürfen Sie weinen. Natürlich fühlen Sie sich hundeelend. Natürlich gehen Sie durch Kämpfe. Aber sagen Sie mir, worauf ist Ihr Wille ausgerichtet?" Sie antwortete sogleich: "Daran hat sich nichts geändert, weil ich weiß, was ich zu tun habe." Wir schlugen das Neue Testament auf und lasen gemeinsam die Geschichte des Ringens Jesu im Garten Gethsemane. Da merkte sie, worauf es ankam. Ihre Auslieferung an den Willen Gottes war stark und standhaft, doch ihr Gefühlsleben war angeschlagen und brachte sie in Not. Jemand hat einmal ganz richtig gesagt: "Unser Wille mag mit dem Schnellzug fahren, aber unser Gefühlsleben reist manchmal mit dem Personenzug."
(David Seamands)

Quelle: In Bildern reden, Heinz Schäfer, Beispiel 1296
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