Das Gastmahl
Gotthold ward an einem Ort zur Mahlzeit gebeten, wobei ihm Hoffnung gemacht ward, daß er einen seiner liebsten Freunde, mit dem er vor andern gern umging, auch daselbst finden würde. Als er nun sich einstellte, fand er, daß sein vermutheter Freund wegen eingefallner Hindernisse ausgeblieben war, worüber er voll Unmuths ward, und sich bei solchem Mahl wenig fröhlich bezeigen konnte. Er gerieth aber darüber in folgende Gedanken: einer gottseligen Seele, die den Herrn Jesum herzlich liebt und nach ihm ein brünstiges Verlangen hat, der geht es eben wie mir jetzt; sie sucht ihren Freund an allen Orten, in allen Dingen, in allen Begebenheiten; findet sie ihn, wer ist fröhlicher, als sie? findet sie ihn nicht, wer ist trauriger, als sie? Ach, mein Herr Jesu, du getreuster Freund meiner Seele! du bists, den meine Seele liebt, denn du bists, der meine Seele liebt. Meine Seele sucht dich! Mein Herz sehnt sich nach dir! Was soll mir die Welt mit all ihrer Lust, Pracht, Macht und Herrlichkeit, wenn ich dich nicht darin finde? Was soll mir die niedlichste Speise, der lieblichste Trank, die lustigste Gesellschaft, wenn du nicht dabei bist, wenn ich nicht meinen Bissen in deinen Wunden feuchte, wenn nicht deine Gnade meinen Trunk gesegnet und süß gemacht, wenn du nicht mit meiner Seele freundlich redest? Fürwahr, mein Erlöser! wenn ich sollte im Himmel sein und fände dich im Himmel nicht, so würde ich den Himmel für keinen Himmel achten. Drum, mein Herr Jesu! wenn ich dich mit Thränen, mit Seufzen, mit Flehen, mit Händeaufheben, mit Verlangen, Harren und Hoffen suche, so verbirg dich nicht, sondern laß mich dich finden. Denn, Herr! wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde, und wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott! allezeit . meines Herzens Trost und mein Theil! Ps. 73, 25. 26.
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