Das einzige Kind
Zween vornehme und begüterte Eltern hatten einen einigen Sohn, welchen sie, wie es pflegt, überaus lieb und werth hatten; er war ihrer Augen Lust und Herzens Trost, es mußte ihn kein kaltes Lüftlein anwehen, kein unfreundliches Gesicht anblicken, kurz, er mußte allen seinen Willen haben. Gotthold sah dieses und sagte: Auf solche Weise werdet ihr Gott bald Ursache geben, mit euch zu eifern, und dies ungemäßigte Liebesfeuer dürfte des Knaben Leben bald verzehren. Denn meinet ihr, daß euch der Höchste einen Abgott gegeben hat, darüber ihr sein vergessen sollt? Oder hat er darum euer Gebet erhört und euch diesen Sohn beschert, daß ihr etwas hättet, daran ihr euer Herz hinget und euch zu versündigen Anlaß nehmet? Eine seltsame Braut wäre es, der der Bräutigam ein schönes Bild hätte gegeben, und sie wollte sich in dasselbe verlieben, an ihn aber nicht mehr gedenken; so macht ihr es: Gott hat euch diesen Sohn gegeben, daß, so oft ihr denselben anseht, ihr seiner Güte gedenken und ihn in kindlicher Furcht preisen sollet; ihr aber habt das Herz so sehr an den Sohn gehängt, daß ich nicht , weiß, ob ihr Zeit habt, an den Vater im Himmel zu denken. Dies ist eine Affenliebe, welche die Kinder im Herzen und Küssen erdrückt. Solche Liebe ist wie der Epheu oder wilde Hopfen, der sich um einen fruchtbaren jungen Baum rankt und denselben erstickt. Darum sehet dahin, daß ihr nicht allein einen Sohn, sondern auch einen gottseligen Sohn erziehen und haben mögt. Das Verzärteln aber der Kinder ist, als wenn man ein hölzernes Gefäß in die Sonne und warme Luft setzt, da es von einander treuget, daß es oft gar zerfällt oder doch hernach kein Wasser halten will. Also ist der Eltern unzeitige und nicht mit Gottseligkeit und Vernunft gemäßigte Liebe der Kinder Verderben und macht sie aller guten Lehre und Tugend unfähig. Nachdem er nun eine Weile geschwiegen, fuhr er fort und sagte: Mir fällt aber bei eurem einigen Sohn ein, daß der Mensch eine einige Seele hat, Ps. 22, 21., und wäre zu wünschen, daß er dieselbe so lieb und in Acht haben möchte, als ihr dieses euer einiges Kind. Fürwahr mancher ruchlose Mensch handelt so leichtfertig, als hätte er wol 10 Seelen zuzusetzen, da doch eine und einmal verloren, alles und ewig verloren ist. Mein Gott! nicht das allein hab ich bei meiner Seele zu bedenken, sondern auch, daß sie dein und nicht mein ist. Denn du hast sie mit dem Blute deines Sohnes theuer erkauft. Wie sollte ich nun ein so theuer erworbenes Gut dir veruntreuen? Doch, mein Vater! meine Aufsicht ist zu schlecht für ein solches Kleinod; ich würde es leicht verwahrlosen und verlieren; du wirst wohl wissen zu bewahren, was dir so viel kostet.
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