Das brauche ich nicht mehr. Ich lebe ja wieder!

Wilhelm Busch erzählt: Seltsam, wie still nachts um zwei Uhr die Großstadtstraßen sein können, die am Tage mit Lärm erfüllt sind! Schwarz und schweigend stehen die Häuser. Trübe scheinen die Lampen durch den dunklen Nebel.
Fröstelnd biege ich ein in die Straße, die zum Krankenhaus führt. Mitten in der Nacht hat mich das Telefon geweckt: Ein Sterbender verlangt nach dem Pfarrer.
Aus dem Hause fällt Licht. Zankende Stimmen stören die Ruhe der Nacht. Um welche Kleinigkeit man sich dort wohl streitet? Und in dem Krankenhaus schickt sich eine Seele an, in die Ewigkeit zu gehen.
Es ist so wunderlich: Ich sollte das Sterben doch gewohnt sein! Wie viele habe ich dahingehen sehen  -  auf Schlachtfeldern und auf Krankenbetten! Aber  -  es ist und bleibt eine erschütternde Sache, wenn der lebendige Gott ruft: "Kommt wieder, Menschenkinder!"
Ich muss mich beeilen! Bald stehe ich vor dem großen Gebäude. Der Pförtner weiß schon Bescheid und weist mich auf die richtige Station.
Und nun betrete ich das Krankenzimmer. Im Bett ein noch junger Mann. Seine Frau sitzt erregt bei ihm. Als sie mich sieht, springt sie auf: "Herr Pfarrer, geben Sie meinem Mann schnell das Abendmahl!"
Ich schaue auf den Patienten. Der Tod hat das Gesicht schon gezeichnet. Der Kranke nimmt keine Notiz mehr von meinem Kommen.
Nein! Ich werde den Mann nicht mehr mit einer Abendmahlsfeier quälen. Aber ich bin der Überzeugung, dass die Sterbenden unser Wort noch hören, auch wenn der Leib keine Zeichen des Verständnisses mehr gibt. Und darum will ich den Mann in die Ewigkeit begleiten mit meinem Gebet und mit den Worten der Gnade.
Die Frau hält meine Hand fest: "Herr Pfarrer, schnell! Geben Sie meinem Mann das Abendmahl!"
Ich schiebe sie beiseite. Ihre Unruhe ist bedrückend. Dann beuge ich mich zu dem Kranken und sage ihm ganz langsam das Bibelwort: "Das Blut Jesu Christi macht uns rein von aller Sünde ..."
Langsam schlägt er die Augen auf und sieht mich an. Die Frau packt meinen Arm: "Schnell! Das Abendmahl!"
Wenn ich doch die Frau zur Ruhe bringen könnte! Ich führe sie auf den Korridor hinaus und versuche ihr klarzumachen, dass ihr Verlangen sinnlos sei: "Sehen Sie, Ihr Mann ist schon viel zu elend. Das Abendmahl quält ihn jetzt nur."
Sie schluchzt auf: "Aber er soll doch selig werden!"
Was soll man da sagen? "Frau!", erkläre ich ihr erregt, "Meinen Sie denn, eine äußerliche Zeremonie könne vom Gericht Gottes erretten? Wenn Ihr Mann den Herrn Jesus Christus kennt als seinen Heiland und an ihn glaubt, dann ist er errettet  -  auch wenn er jetzt nicht das Abendmahl nimmt. Und ohne Jesus  -  ja, da hilft auch kein Abendmahl!" Aber sie lässt nicht nach! Sie erzählt, wie sehr ihr Mann nach dieser Feier begehre. Sie drängt...
Ach, ich war damals ein junger Anfänger im Amt. Auf der Universität hatte mich kein Mensch auf solche Fälle vorbereitet. Hilflos stand ich im Zweifel, was zu tun sei. Dann gab ich nach.
Wir gingen in das Zimmer. Schnell richtete ich die Geräte, der Mann war durch die leise Unruhe aufgewacht. Still und  -  wie mir schien  -  gesammelt war er jetzt ganz bei der Sache.
"Dies ist der Kelch des Neuen Testaments in meinem Blute, das für euch und für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden." In der unendlich stillen Nachtstunde standen diese gewaltigen Worte wie Felsen der ewigen Errettung.
Betend wartete der Krankenwärter im Hintergrund. Ich kannte ihn als einen von Herzen gläubigen Christen.
Als die Feier zu Ende war, sank der Mann befriedigt zurück in die Kissen. Ich verließ mit dem Wärter das Zimmer. Nun sollten die beiden Eheleute allein sein, um Abschied zu nehmen.
Aber  -  ich kam nicht fort. Der Wärter verwickelte mich in ein Gespräch. Und ich ließ es gern geschehen. Mir war, als sei diese Sache noch nicht zu Ende.
Es verging eine halbe Stunde. Alles war still.
"Wir wollen nach dem Kranken sehen", sagte ich und öffnete die Tür.
Da bot sich mir ein verblüffendes Bild: Aufrecht saß der Mann im Bett. Lachend rief er uns zu: "Ich bin über den Berg. Es geht besser!" Und lachend und weinend warf sich die Frau an seinen Hals.
Es war erstaunlich. Aber warum sollte das nicht stimmen? Es läuft mancher durch die Straßen, den die Ärzte einmal aufgegeben hatten. Und die Freude der beiden steckte einfach an. Da musste man sich mitfreuen.
Ich nahm die Hand des Kranken: "Wie glücklich bin ich, dass ich das miterleben darf." Und nun ergriff mich dieser Wechsel der Situation mächtig. Ich musste noch ein Wort sagen: "Lieber Mann, als Sie an den Pforten der Ewigkeit standen, ist der Herr Jesus zu Ihnen gekommen mit seiner Gnade. Lassen Sie nun nicht mehr von diesem Heiland!"
Da ging auf einmal ein abscheuliches Grinsen über das Gesicht des Mannes  -  es war wie ein Flammenschein der Hölle. Spöttisch lächelnd sagte er:
"Ach, das alles brauche ich doch nicht mehr. Ich lebe ja wieder!"
Erschüttert hörte ich diese unglaubliche Rede. Jedes Wort blieb mir in der Kehle stecken. Und während ich noch so stand, griff der Patient plötzlich nach seinem Herzen und  -  sank langsam zurück. Er war tot! Da bin ich in die Nacht geflohen...

Quelle: Hört ein Gleichnis, Heinz Schäfer, Beispiel 143
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