Das Ahnen

Die Erfahrung bezeugts, daß einem Menschen zuweilen das Herz schwer wird, und er eine sonderliche Bangigkeit verspürt, ob er wohl alsdann noch keine Ursache seiner Traurigkeit ersehen kann. Als nun Gotthold hierüber befragt wurde, sagte er: Man findet hievon auch bei den Alten viele Zeugnisse und Exempel, mit deren Anführung aber ich weder euch, noch mich bemühen mag, zuvörderst da es uns selbst an merkwürdigen Exempeln nicht fehlt. Es ist in diesem Lande vor wenig Jahren geschehen, daß ein Edelmann von seinem Gut in eine benachbarte Stadt reitet, woselbst er einen seiner Vettern antrifft, mit welchem er sich zum Trunk niedersetzt. Indessen kommt seiner Frau daheim, als sie über Tische mit den Kindern und deren Lehrer sitzt, eine sonderliche und unverhoffte Traurigkeit an; sie klagt, ihr Herz sei ihr so schwer und beklommen, daß sie es nicht sagen könne, sie vergißt Essen und Trinken und kann, wo sie geht, der Thränen sich nicht enthalten, die ihr häufig die Backen herab fließen, wobei sie öfters seufzend sagt: Ach, mir steht ein groß Unglück bevor! Ach, wenn ich wüßte, wie es um meinen Junker wäre! Doch fällt mir oft ein der Vers des Gesangs: Auf meinen lieben Gott u. s. w.: Mein Unglück kann er wenden, es steht in seinen Händen. Was geschieht? Der Edelmann geräth mit seinem Vetter in Streit, so, daß sie beide, weil die Pferde gesattelt vor der Thür standen, zu denselben laufen, die Pistolen heraus reißen und mit aufgeschlagenen Hähnen einander sie auf die Brust setzen, auch los drücken. Allein, hier sah man die Wirkung der Thränen jener frommen Frau, welche, so zu reden, das Pulver genetzt, daß es kein Feuer fangen wollte, also daß ihnen beiden die Pistole versagte und also andere Leute Zeit gewannen, dazwischen zu kommen und sie von einander zu bringen. Es ist in dieser Stadt ein guter Bürger noch lebend, dem auch einmal wegen eines schweren Traums eine große Herzensbangigkeit zugestoßen, daß er sich und seine Frau zum Gebet öfters ermunterte, sagend, daß ihm ein Unglück bevorstände, ob es Gott der Herr gnädig wenden wollte. Als er nun mit einer Büchse, die er Lust halber mit ins Feld zu nehmen pflegte, umgeht, und seine Frau ein saugend Kind auf dem Schooß habend vor ihm am Tische sitzt, geht unvermuthlich die Büchse los, und fährt der viele Hagel, damit sie geladen war, über der Frau und des Kindes Haupt in den gegipsten Boden mit ihrer aller höchstem Schrecken. Ich weiß aber hievon nichts anders zu sagen, als daß ich solches auch für ein Merkzeichen der göttlichen unbegreiflichen Güte halte. Satan, der dem lieben Hiob mit Lust so viel Schaden zufügte, ist noch jetzt gegen die Frommen nicht anders gesinnt, und es ist seine Freude, wenn er sie in Unglück bringen und an Leib und Seel gefährden mag. Dies sieht und weiß der barmherzige Gott, der Hüter Israel, der nicht schläft, noch schlummert, und thut vermittelst der h. Engel oder sonst ihnen ihre Gefahr durch solche Herzensbangigkeit kund, damit sie sich in der Zeit mit dem lieben Gebet und möglicher Vorsichtigkeit verwahren mögen. Auch bezeugt es die Erfahrung, daß hiedurch oft ein Unglück entweder gänzlich zurück getrieben, oder doch großentheils gelindert wird. Herr, mein Gott! was ist der Mensch, daß du dich sein so annimmst? und des Menschen Kind, daß du ihn so hoch achtest? Ps. 144, 3.

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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