Corrie ten Boom - eigenen Peinigern vergeben

Corrie ten Boom erzählt: In Deutschland finde ich überall die Wunden und Narben des Krieges. Eine Mutter zeigte mir einen Brief von ihrem Sohn Karl. Er ist in den Niederlanden in einem Gefängnis. Während des Krieges war er Gefängniswärter, und genau dort, wo er seine Grausamkeiten verübt hat, muss er jetzt dafür büßen. Sechzehn Jahre Gefängnis lautete das Urteil. Sein Brief aber ist heiter. Er schreibt: "Liebe Eltern, freut euch mit mir: Ich habe den Herrn Jesus als meinen Heiland angenommen! Er hat mich zu einem Kind Gottes gemacht. Alle meine Sünden habe ich auf ihn geworfen, und er hat sie in das tiefe Meer versenkt."
Als ich diese Sätze lese, beschließe ich, mich bei der Königin Juliane für ihn zu verwenden und Amnestie für ihn zu erbitten.
Bevor ich meinen Brief an die Königin schreibe, besuche ich Karl. Er ist im Vughter Gefängnis. Ich kenne es gut. Wieder sehe ich den Innenhof, wo Bep und ich einst gestanden haben, ohne zu ahnen, was unser Schicksal sein würde. Wir standen damals inmitten einer Reihe von Männern, und man erzählte uns, dass wir nun wohl erschossen werden sollten. Das Grauen packt mich beim Betreten dieses Schreckensortes. Jetzt nähere ich mich der Zelle, wo Karl, mein ehemaliger Aufseher, sich aufhält.
"Ich bringe dir Grüße von deinen Eltern, Karl."
"Haben Sie sie denn gesehen?"
"Gewiss, ich komme eben aus Deutschland."
Karls Augen werden feucht, und er flüstert: "Wie geht es der Mutter?"
"Gut, Karl, sie freut sich, dass du dich für Jesus entschieden hast und jetzt ein Kind Gottes sein darfst."
Ich erzählte ihm etwas von meinem Besuch bei seinen Eltern und Freunden. Und dann sagte ich: "Ich habe auch in diesem Gefängnis gesessen."
"Ja, wann?"
"Im Jahre 1944."
Karl erblasste und schaute mich an. "Dann kennen wir uns?"
"Ja, allerdings kennen wir uns."
In der Erinnerung erleben wir beide nochmals die Grausamkeiten, deren Karl sich schuldig gemacht hat, aber dann sagt er  -  und ein Freudenschimmer verklärt sein Gesicht: "Ich bin so froh, dass ich jetzt von meinen Sünden erlöst bin."
Düstere Gedanken suchen mich heim. So leicht ist das? Jawohl: Mein Vater, meine Schwester Bep, Kik, mein Vetter, und viele, viele andere sind im Gefängnis oder im Konzentrationslager durch deine und deiner Genossen Grausamkeiten einfach hingemordet worden. Und jetzt sind deine Sünden einfach von dir genommen. So einfach ist das...?
Ich sage kein Wort. Nur die Gedanken arbeiten in mir. Aber dann wird mir plötzlich klar, was ich tue. Jesus hat Karls Sünden ins tiefe Meer versenkt. Vergeben und vergessen hat er sie. Und ich zerre sie wieder ans Tageslicht. Ich bete: "Vater, vergib mir diesen Gedanken im Namen Christi! Herr Jesus, lass mich ganz nahe bei dir sein, so nahe wie die Reben des Weinstocks sich an seinen Stamm halten, damit ich vergeben und vergessen und meine Feinde lieben kann!" Und jetzt habe ich wieder Mut zum Reden.
"In der Tat, Karl, deine Sünden sind dir vergeben worden. Der Herr Jesus hat die Sünden der ganzen Welt getragen, auch deine und meine Sünden. Ich will dir etwas sagen: Ich schreibe jetzt an die Königin und bitte sie, dass dir Amnestie verliehen werden möge."
In der Zelle bei Karl habe ich die folgende Lektion gelernt: Nur wenn ich mit ihm, der am Kreuze gebetet hat: "Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun", verbunden bin, nur dann kann ich auch vergeben und vergessen, ja sogar meine Feinde lieben. Ohne ihn aber ist mein Herz von Hass und Bitterkeit erfüllt. Darum will ich bei ihm bleiben und die Rebe des Weinstocks sein: "Auf dass meine Freude in euch bleibe und eure Freude vollkommen werde", sagt Jesus.

Quelle: Hört ein Gleichnis, Heinz Schäfer, Beispiel 261
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