Brecht und Freud über die Scham
Der Dramatiker und Marxist Bertolt Brecht (1898-1956) hat einmal gesagt: "Vielleicht ist der Mensch nie so sehr Mensch wie in dem Moment, wo er sagt: Ich schäme mich." Das hat ein Mann gesagt, den man wirklich nicht beargwöhnen kann, er wolle mit den Herrschenden oder der Kirche gemeinsame Sache machen. Brecht hat offenbar ganz richtig erkannt: Sich schämen, das kann kein Tier, aber diese Fähigkeit hat jeder Mensch. Über die Inhalte des Sich-Schämens kann man sich streiten, und darüber werden wir uns noch Gedanken machen müssen. Aber die Tatsache eines Schamgefühls bei jedem gesunden Menschen lässt sich nicht verleugnen.
Sigmund Freud (1856-1939), der so oft zitiert wird, wenn es um moderne Freiheiten geht, vor allem um Freiheiten auf sexuellem Gebiet, hat behauptet: "Abwesenheit von Schamgefühl ist das sicherste Kennzeichen von Schwachsinn." Dieses Wort stammt nicht von einem erzkonservativen Papst, sondern vom Schutzpatron der modernen, sexuellen Revolution!
Die Fähigkeit, sich zu schämen, erstreckt sich auf das ganze menschliche Leben; und wie gut, dass es so ist! Wie schrecklich wäre es, in einer Gesellschaft zu leben, in der das Schamgefühl abgestorben ist! Wir leben nicht in einer solchen Gesellschaft, nur hat sich das Schamgefühl offenbar etwas auf andere Gebiete verlagert. Früher haben sich die Leute geschämt, wenn sie sonntags nicht in der Kirche waren. Heute gibt es Millionen von Menschen, die sich schämen, wenn sie in die Kirche gehen sollen. Sie tun das allenfalls in einer fremden Stadt, wo sie keiner kennt. Eine merkwürdige Verlagerung des Schamgefühls, und dazu, so scheint es, an einer unbegreiflichen Stelle. Aber man darf eben nicht auffallen. In einer atheistischen Gesellschaft als Kirchenläufer dastehen - wie entsetzlich! Das darf einem nicht passieren!
(Joachim Illies)
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