Bleisoldaten hinter Glas

Letzthin las man von einem armen Büblein in London, das so verlumpt, vernachlässigt und unglücklich war, wie es nur ein Kind in London sein kann. Eltern hatte es nicht. Ein altes, hässliches, trunkfälliges Weib hielt es unter ihrer "Obhut", d.h. sie schickte es auf den Bettel, nahm ihm abends seine Beute ab und prügelte es durch, wenn der Ertrag nicht ihren Erwartungen entsprach. So ging's Jahr und Tag.

Die einzige Freude des armen Knäbleins be­stand darin, dass es die köstlichen Sachen betrachtete, die hinter den dicken Spiegelscheiben der Läden aufgestellt waren. Natürlich kam ihm nie der stolze Gedanke, dass es einmal etwas davon besitzen könnte, aber es war ihm schon eine hohe Wonne, sie hinter dem Glas zu sehen. Von all den Herrlichkeiten aber zog es nichts so an wie Bleisoldaten zu Fuß und zu Pferde mit zugehöriger Artillerie. Ach, welche Wonne müsste es sein, sie zu betasten und selbst in Reih und Glied und Schlachtordnung stellen zu können! Aber daran war nicht zu denken. Stille, mein Herz, sei stille!

Da ward der arme Knabe eines Tages überfahren und ernstlich verletzt. Als er aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht, befindet er sich in einem Kinder­hospital, das so ist, wie ein Hospital sein soll, voll Sonne und Liebe. Es kommt ihm vor, als ob er im Himmel wäre. Was ihn am meisten wunderte, war dies, dass die Kinder rechts und links auf ihren Bettlein Spielsachen hatten, die wunderschön waren und die sie mit ihren eigenen Händen betasten durften. Aber das Staunen erreichte seinen Höhepunkt, als jetzt die holde, freundliche "Schwester" einen Tisch an sein Bett rückte und eine große Schachtel mit - Bleisoldaten dar­auf stellte: "So, das ist für dich!" Er traute erst seinen Ohren, dann seinen Augen, dann seinen Händen nicht. Fast angstvoll prüfend, streckte er seine Fingerchen danach aus. - Er nahm ein Stück, noch ein Stück! Und was war das Resultat seiner Untersuchung? Er rief mit dem äußersten Entzücken: "O, es ist kein Glas dazwischen!"

Wir denken dabei an die göttlichen Verheißungen: Es ist jetzt noch Glas dazwischen; aber einst ist's hinweg!

Quelle: Neues und Altes
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