Bis zwölf Uhr muss das Geld da sein

"In den ersten Tagen des Oktober 1855 vormittags", so erzählt Pastor Büchsel, der Sohn des Gründers der Berliner Stadtmission, im "Pilger von Sachsen", "stand ich im Matthäus-Pfarrhause in Berlin am Pult meines jetzt verstorbenen Vaters und schrieb für ihn. Da klopfte es an der Tür. Auf des Vaters 'Herein' trat ein ärmlich aussehender Mann ins Zimmer, sagte, er sei Schneidermeister, wohne in der Matthäusparochie, es sei Zinstag. Wenn er bis zwölf Uhr mittags seine Miete, fünfzig Taler, nicht bezahlt habe, werde er mit seiner kranken Frau und seinen sechs Kindern auf die Straße gesetzt. Er habe gar nichts. Der Vater ging an den Tisch, um ihm eine Geldunterstützung zu reichen. 'Nein ich bitte nicht um diese. Sie können mir doch nicht fünfzig Taler geben. Aber im Psalter steht: 'Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten.' Gerufen habe ich treulich. Hören und helfen wird der treue Gott. Ich komme zu meinem Pastor und möchte hören, wie der treue Gott und Herr es tun wird. Schon ist's elf Uhr. Bis zwölf Uhr muss das Geld da sein.' Der alte Vater gab zur Antwort: "Warten Sie die Stunde ab, da werden Sie ja sehen."
Der Schneider ging. Der Vater diktierte weiter. Etwa zehn Minuten vor Zwölf sehe ich nach der Uhr. 'Du möchtest wohl sehen, was mit unserem Schneider wird?' - 'Jawohl, Vater!' Schnell holte ich Rock und Hut. Wir gingen in die Potsdamer Straße auf die Wohnung des Schneiders zu. Bald sahen wir vor einem Hause auf der rechten Seite der Straße eine Matratze auf der Erde liegen, auf ihr eine kranke Frau und um sie herum eine Schar weinender Kinder. 'Wo ist denn der Schneider?' Der Vater blieb stehen. Ich ging die Straße weiter hinunter und sah bald den Schneider, wie er auf der anderen Seite der Straße stand, von der aus man damals den Matthäus-Kirchturm noch sehen konnte, die Augen zum Kirchturm gerichtet. Seine Lippen bewegten sich. Ich ging an ihm vorüber und hörte, wie er leise sprach: ‚Rufe Mich an in der Not, so will Ich dich erretten.' Es war drei Minuten vor zwölf Uhr. Tief bewegt kehrte ich zum Vater um. Da trat im Augenblick eine Dame zum Vater. 'Gut, dass ich Sie hier treffe. Als mein Mann heute morgen in sein Büro gehen wollte, sagte er zu mir: "Heute ist Zinstag. Heute ist viel Not unter unseren Armen. Hier nimm diesen Fünfzigtalerschein und bringe ihn unserem Pastor. Er wird wissen, wo er damit helfen kann."' Sie wollte dem Vater das Geld geben; mein Vater sagte: 'Nicht mir, nein, dem da', und wies auf den Schneider. Ich begleitete die Dame. Sie drückte dem Schneider den Schein in die Hand. Er sprach laut: 'Rufe Mich an in der Not, so will Ich dich erretten und du sollst Mich preisen' - und - - zwölf schlug's im Augenblick vom Matthäusturm."

Quelle: Der ewig reiche Gott, Dietrich Witt, Beispiel 1029
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