Aus dem Gebet der unbekannten Äbtissin

Im "Gebet der unbekannten Äbtissin" heißt es unter anderem: "Herr, du weißt, dass ich altere und bald alt sein werde. Bewahre mich davor, schwatzhaft zu werden, und besonders vor der fatalen Gewohnheit, bei jeder Gelegenheit und über jedes Thema mitreden zu wollen. Befreie mich von der Einbildung, ich müsste anderer Leute Angelegenheiten in Ordnung bringen. Bei meinem ungeheuren Schatz an Erfahrung und Weisheit ist's freilich ein Jammer, nicht jedermann daran teilnehmen zu lassen. Aber du weißt, Herr, dass ich am Ende ein paar Freunde brauche. Ich wage nicht, dich um die Fähigkeit zu bitten, die Klagen meiner Mitmenschen über ihre Leiden mit nie versagender Teilnahme anzuhören. Hilf mir nur, sie mit Geduld zu ertragen, und versiegle meinen Mund, wenn es sich um meine eigenen Kümmernisse und Gebrechen handelt. Sie nehmen zu mit den Jahren, und meine Neigung, sie aufzuzählen, wächst mit ihnen. Ich will dich auch nicht um ein besseres Gedächtnis bitten, nur um etwas mehr Demut und weniger Selbstsicherheit, wenn meine Erinnerung nicht mit der anderer übereinstimmt. Schenk mir die wichtige Einsicht, dass ich mich gelegentlich irren kann. Hilf mir, einigermaßen milde zu bleiben.
Ich habe nicht den Ehrgeiz, eine waschechte Heilige zu werden (mit manchen von ihnen ist so schwer auszukommen), aber ein scharfes, altes Weib ist eins der Meisterwerke des Teufels. Mach mich teilnehmend, aber nicht sentimental, hilfsbereit, aber nicht aufdringlich. Gewähre mir, dass ich Gutes finde, wo ich es nicht vermutet habe, und Talente bei Leuten, denen ich sie nicht zugetraut hätte, und schenke mir, Herr, die Liebenswürdigkeit, es ihnen zu sagen..."

Quelle: In Bildern reden, Heinz Schäfer, Beispiel 1278
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