Armes Kind! und du bist wohl ganz unschuldig!

Bei einer goldenen Hochzeit war die glückliche Ehe der Jubilare viel gerühmt worden. Ein jungverheirateter Enkel fragte den Großvater: "Wisst Ihr vielleicht ein Zaubermittel fürs Eheglück?" Da begann der Alte zu erzählen: "Nach einer sehr glücklichen Brautzeit zweifelten wir beide keinen Augenblick, dass wir uns bis ans Lebensende so verstehen würden. Bald kam es anders. Aus kleinen Meinungsverschiedenheiten wurden Streitigkeiten, die anfangs wohl mit einer Versöhnung endeten, was aber bald seinen Reiz verlor. Ich fand als vielbeschäftigter Arzt in meinem Berufe Ablenkung; meine arme Frau blieb aber mit ihrem Kummer allein." Nun musste sie weitererzählen. "Auf einen totunglücklichen Jammerbrief an die Mutter kam die Antwort: 'Wer hätte geahnt, dass Fritz so eigensinnig, anspruchsvoll und rücksichtslos sei? Armes Kind! und du bist wohl ganz unschuldig!' Der Mutter Bedauern tat mir gut - bis ich plötzlich stutzte. 'Ja, sollte es am Ende heißen: 'Und du bist ganz unschuldig?' - Fragezeichen? - Als es am nächsten Tag wieder einen Zusammenstoß gab, musste ich an der Mutter Wort denken: Und du bist ganz unschuldig? - und schwieg. Als er am Abend mich darüber fragte, musste ich den Briefwechsel mit der Mutter erzählen. 'Ja, Frau', meinte er dann, 'mit dem Fragezeichen hat es wohl seine Richtigkeit. Jeder von uns hat Schuld, sagen wir: du die Hälfte, ich die Hälfte.' Als er mein entsetztes Gesicht sah, lenkte er begütigend ein: 'Oder ich will zugeben: du etwas weniger, ich etwas mehr - ist's recht so?' Diese Antwort traf mich und beleuchtete wie ein Blitz meine vermeintliche Unschuld. Ich hatte das Zaubermittel in die Hand bekommen, um unser schon gefährdetes Glück zu retten."
Nach: E. E. in "Frau und Mutter".

Quelle: Er ist unser Leben: Beispiel- und Stoffsammlung für die Verkündigung, Martin Haug, 1941, Beispiel 614
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