An dir liegt es, wenn die Arme frieren wird!

Wieder einmal waren zum Weihnachtsmarkt viele Stände und Buden in Straßburg aufgebaut worden. Überall wurden die verlockendsten Dinge angeboten. Es duftete herrlich nach Süßigkeiten, Bratwürsten, Kerzen und Tannengrün.
Johann Friedrich Oberlin wäre kein rechter Junge gewesen, wenn er nicht mitten in dem Menschenstrom des Weihnachtsmarktes geschwommen wäre. Hier und dort blieb er stehen. Dann fühlte er heimlich nach, ob er seine Geldbörse, die sechs kostbare Sous barg, noch in der Manteltasche hatte. Alles stimmte ihn froh und festlich, und bei jedem Trödler überlegte er, was er seinem Mütterchen als Weihnachtsgabe kaufen könnte.
Jetzt erspähte er einen Stand mit besonders vielen Herrlichkeiten. Er drängelte sich hin und schob sich beharrlich nach vorne, wo er alles genau betrachten konnte.
So sehr war er in Anschauen versunken, dass er seine Umgebung gar nicht wahrnahm. Plötzlich aber drang unvermittelt ein Wort in sein Bewusstsein, dass ihn aufhorchen ließ: "Nein, beste Frau, noch billiger kann ich Ihnen das Kleid nicht verkaufen. Da kann ich leider nichts machen!"
Johann Friedrich blickte auf. Neben ihm stand eine arme, dürftig und dünn gekleidete Frau, ihr gegenüber die Verkäuferin, der es dem Anschein nach auch nicht gerade gut ging. Unvermittelt schoss dem Knaben der Gedanke auf:
"Ach, lieber Heiland, du willst ja, dass wir vor allem nach deinem Reiche trachten sollen. Da muss ich mich wohl doch von meinem Taschengeld trennen."
Einen Augenblick zögerte er, dann aber blitzte es in seinen Augen auf. Zaghaft fragte er die Händlerin: "Wieviel fehlt denn der Frau?" Die Trödlerin schaute den Knaben verwundert an und antwortete: "Wenn man's nicht hat, ist's viel, aber einem Reichen bedeutet es nichts."
"Na ja, aber wieviel ist es denn? Sagen Sie's mir bitte."
"Nur fünf Sous, kleiner Herr, ein lächerlicher Batzen Geld. Aber wenn er fehlt, kann es recht bitter sein."
Johann Friedrich blickte verlegen zu Boden. Wie sollte er sich entscheiden? Konnte der liebe Gott nicht besser einen Reichen hierher führen, der in seinen gefüllten Säckel greifen würde, ohne dass es ihm weh täte? Doch nun erhaschte der Junge den müden, traurigen Blick der Frau, die sich zum Gehen wandte. "Dann muss ich halt verzichten", sagte sie leise und zuckte die Schultern. "Vielleicht wird der Winter ja auch nicht so kalt."
"An dir liegt es, wenn die Arme frieren wird!", schrie es in dem Knaben. "Wenn Mutter wüsste, dass du ihr etwas schenken willst, anstatt einer Not Leidenden zu helfen, wird sie sich nicht recht freuen können."
Der Knabe fuhr aus seinen Gedanken auf, fasste die Frau entschlossen am Arm und zog sie zum Stand zurück. Dann entnahm er seiner Börse fünf Sous und drückte sie der Trödlerin in die Hand. "Hier ist das fehlende Geld", sagte er, nickte der armen Frau, die ihn verdutzt anstarrte, freundlich zu und verlor sich im Gewühl des Marktes.
Aus dem Knaben Johann Friedrich Oberlin wurde ein berühmter Mann - nicht als Gelehrter, als Künstler oder gar als Soldat, sondern wegen seines gütigen, hilfsbereiten Herzens. Noch heute, 150 Jahre danach, nennen ihn die Bewohner jener Dörfer, in denen er segensreich wirkte, den Heiligen vom Steinthal.

Quelle: Lebensbilder, Paulus Langholf, 1960
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