Am Karfreitag zum Leiden bereit

Die Frau eines Arztes erzählt: "Es war am Karfreitag. Mein Mann und ich schickten uns eben an, zur Kirche zu gehen, als ein Mann mit einem blauäugigen Mädchen an der Hand in die Stube trat. Die Kleine sollte operiert werden, sagte der Vater; sie litt seit längerer Zeit an einer Fettgeschwulst an der rechten Wange, die beseitigt werden sollte. 'Warum kommen Sie aber gerade an einem Festtage, an dem es den Christen hineinzieht ins Gotteshaus?' fragte der Arzt, dem sonst keine Stunde zu spät und kein Weg zu weit war, wenn es galt, einem Leidenden Hilfe zu bringen. 'Ja, sehen Sie, Herr Doktor.' erwiderte der Mann, 'das verhält sich so: Schon seit Monaten hätte unsere Kleine - sie ist sechs Jahre alt - operiert werden sollen. Wenn wir aber von der Operation sprachen, so fing das Kind so heftig an zu weinen und zu zittern, dass wir die Sache von Monat zu Monat hinausschoben. Heute morgen nun, als der Tag kaum angebrochen war schlüpfte unsere kleine Marie aus dem Bett, schlang ihre Arme um den Hals der Mutter und flüsterte ihr ins Ohr: 'Heute will ich mit dem Vater zum Doktor, damit er mir die Geschwulst wegschneiden kann.' Natürlich benutzte ich die mutige Stimmung der Kleinen und kam sogleich hierher, um die Operation vornehmen zu lassen.'"
Der Doktor schaute das Kind an und sagte: "Gern will ich deinen Wunsch erfüllen, liebes Kind, will meine kleine Patientin so zart wie möglich behandeln, aber ein wenig Schmerzen bereiten muss ich ihr doch." Die Kleine nickte willig mit dem Lockenköpfchen und schaute dem Arzt ruhig ins Gesicht. Die Operation begann. Sie dauerte lange und war schmerzhaft, sehr schmerzhaft. Aber die Kleine hielt standhaft aus und weinte nicht. Unbeweglich saß sie auf des Vaters Schoß und das Messer des Arztes schnitt tief und immer tiefer ein. Endlich war die Operation glücklich vorbei.
Nachdem sich die kleine Patientin etwas erholt hatte, war die erste Frage des Arztes an das Kind: "Was hat dir den Mut gegeben, solche Schmerzen stillschweigend zu dulden?" Da öffnete sich der Kindermund und sprach schüchtern: "Weil der liebe Heiland heute am Kreuze gelitten hat, deshalb wollte ich auch heute leiden!" Der Arzt schloss gerührt das Kind in seine Arme. Aus frommem Kindermund hatte er eine ergreifende Karfreitagsbotschaft gehört.

Quelle: Der ewig reiche Gott, Dietrich Witt, Beispiel 1141
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