Alter, müder Mann - treuer, guter Hirte.

Ein Pfarrer erzählt: Als Student quälte mich der Zweifel, ob ich je Pfarrer werden könne. Ich ging zu Professor Tholuck. Der tröstete mich: "Haben Sie nicht vom guten Hirten gehört, der die schwachen Schafe auf seine Schultern nimmt und trägt?" Nach Jahren  -  ich war längst Pfarrer  -  kam ich wieder nach Halle; und weil ich hörte, Tholuck liege auf den Tod danieder, wollte ich ihn noch einmal sehen.
"Lassen Sie es lieber", sagte die greise Gattin, "mein Mann bringt die Gedanken nicht mehr recht zusammen." Aber ich bat, mich doch zu ihm zu lassen.
Da lag mein verehrter Lehrer. Ich konnte ihm nur sagen: "Herr Professor, ich muss Ihnen danken, dass Sie mir einmal vom guten Hirten sagten, der die schwachen Schafe trägt. Jetzt sind Sie ein alter, müder Mann, den der gute Hirte trägt."
Da kehrte der Blick des Kranken wie aus weiter Ferne in die Gegenwart zurück, und die Gesichtszüge drückten Freude aus, als er antwortete: "Alter, müder Mann  -  treuer, guter Hirte." Dann verwirrten sich die Gedanken wieder. Aber der Anblick des zerbrechenden, sterbenden Leibes konnte mir den leuchtenden Grund dieses Lebens nicht mehr überdecken: Die hindurchtragende Kraft der Vatertreue Gottes.

Quelle: Hört ein Gleichnis, Heinz Schäfer, Beispiel 361
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