Als Dienen noch groß geschrieben wurde

Ein findiger Kopf hat einmal darauf hingewiesen, dass in einem Konversationslexikon um die Jahrhundertwende dem Stichwort "Liebe" drei Spalten und dem Stichwort "Atom" drei Sätze zugebilligt wurden, während das entsprechende Lexikon unserer Tage die Liebe mit drei Sätzen abtut, für das Atom aber drei Seiten zur Verfügung stellt. Dieser Vergleich macht den ebenso verblüffenden wie erschreckenden Wandel des menschlichen Interesses und der seelisch-geistigen Haltung deutlich, der innerhalb weniger Jahrzehnte erfolgt ist. Man kann ihn und man muß ihn durch einen weiteren Hinweis ergänzen, der etwas ebenso Erschreckendes, wenn nicht noch Erschreckenderes hat, durch den Hinweis auf die Wandlung und Umkehrung des Verhältnisses von Dienen und Helfen auf der einen und Verdienen und an sich selbst Denken auf der anderen Seite.
Es gab einmal eine Zeit, und die Älteren unter uns können sich daran noch erinnern, in der "Dienen" sehr groß geschrieben wurde und "Verdienen" ganz klein. Statt einer langen Reihe von Beispielen nur ein einziges: Das so viel geschmähte und verspottete Preußentum, dessen Schattenseiten gewiss nicht bestritten werden sollen, hat einen Menschenschlag hervorgebracht, den sich heute die Einsichtigen händeringend wieder herbeiwünschen, den preußischen Beamten, angefangen vom kleinen Kanzleischreiber bis hinauf zum Minister. Für ihn war Dienen und Dienen dürfen eine Sache, die einem aufrechten Mann wohl anstand. Der preußische Junker Otto von Bismarck hat seinem König, dem er als Politiker und als Persönlichkeit weit überlegen war, in einer Weise gedient, die man nur mit Erschütterung zur Kenntnis nehmen kann. Es gab bei der Schwere dieses Dienens Nervenzusammenbrüche, ja es gab sogar Weinkrämpfe, aber es gab keinen Zweifel am treuen Dienen.
In demselben Maße, wie dort und damals das Dienen in Ehren stand, stand das Verdienen, wenn auch nicht in Unehren, so doch durchaus an zweiter oder an dritter Stelle. Für den preußischen Beamten waren Zuverlässigkeit, Sparsamkeit und Kargheit im öffentlichen Wirken wie in der eigenen Lebensführung etwas Selbstverständliches. Er diente im Amt und zu Hause dem Staat, das heißt dem Gemeinwohl, und das heißt dem Menschen, dem Bürger des Staates. Das war sein Stolz und nicht das Geldverdienen. Ausnahmen, die nicht fehlten, stellten eben Ausnahmen dar.
Natürlich lagen die Dinge nicht nur in Preußen so. Dort traten sie nur am ausgeprägtesten in Erscheinung, so ausgeprägt, dass sie manchmal in Überspitztheiten ausarteten. Auch anderswo wurde das Dienen - wohlbemerkt das Dienen und nicht das Kriechen - als ein Verhalten betrachtet, das der Menschenwürde nicht nur nicht abträglich war, sondern sie, im Gegenteil, erhöhte. In diesem Zusammenhang mag daran erinnert werden, dass im Wappen des Prince of Wales, des englischen Kronprinzen, der mittelhochdeutsche Wahlspruch "Ich dien" stand und steht, der auch die Devise der soldatischen Ritter des Bathordens, einer der höchsten englischen Kriegsauszeichnungen, ist. Dem Spruch liegen die beiden ersten Verse des paulinischen Briefes an die Galater zu Grunde: "Solange der Erbe unmündig ist, ist zwischen ihm und einem Knecht kein Unterschied, obwohl er ein Herr ist aller Güter, sondern er ist unter den Vormündern und Pflegern bis auf die Zeit, die der Vater bestimmt hat." Eine schönere Einschätzung des Dienens lässt sich kaum denken.
Und nun die Umkehrung: heute wird das Dienen weithin als etwas Überholtes, ja als etwas Demütigendes betrachtet. Man schämt sich geradezu des Dienens. Und man schämt sich nicht nur der Sache, sondern auch des Wortes. Und so merzt man es aus, wo es nur irgend angeht. Ein Mädchen in dienender Stellung heißt nicht mehr Dienstmädchen, sondern Hausgehilfin. Eine unsinnige Wortbildung, beiläufig bemerkt, denn das Mädchen ist ja nicht eine Gehilfin des Hauses, sondern der Hausfrau. Richtig müßte es Hausfrauenhelferin heißen, wie es ja auch Arzthelferin heißt. An dem Wort Dienstmädchen ist dagegen weder sachlich noch sprachlich etwas auszusetzen: ein Mädchen, das dient. Ein klarer Begriff. Wenn nur die Mißachtung des Dienens nicht wäre. Also nicht mehr Dienstmädchen, sondern Hausgehilfin. Die Männer wollen dabei nicht zurückbleiben. Früher nannte sich der Mann, der für den Zustand des Schulgebäudes verantwortlich war, Schuldiener, heute bezeichnet er sich als Hausmeister, wie sich ja auch der Hausdiener eines Gasthofs in einen Hausmeister verwandelt hat.
Wenn man sich einmal klar macht, was für eine Geisteshaltung hinter einem solchen Wechsel der Berufsbezeichnung steht, dann kann einen tatsächlich eine Beklemmung überkommen. Die Tätigkeit ist dieselbe geblieben, aber der Mann, der sie ausübt, will nicht mehr Diener, sondern Meister genannt werden. Warum? Weil er im Dienen etwas Minderwertiges sieht. Wer dient, ist dadurch mit einem Makel behaftet. Und nicht nur er denkt so, sondern unzählige andere auch. Das Wort dienen soll verschwinden.
Deshalb bietet das Radiogeschäft nicht seinen Dienst, sondern seinen Service an, die Tankstelle, das Hotel, die Schifffahrtgesellschaft, das Schlankheitsinstitut desgleichen. Service hier und Service da, Service überall. Dienen ist etwas Gewöhnliches. Wer einen Service leistet, bleibt vornehm. Diese traurige Hochstapelei hat allerdings auch eine belustigende Seite. Das Wort "Service" geht auf das lateinische "servus" zurück, und das bedeutet leider Sklave. Weil die Service-Leute es für ehrenrührig halten, ihre Tätigkeit schlicht und recht einen Dienst zu nennen, sprechen sie lieber von ihrem Service, nämlich von ihrer Sklavenarbeit. Das kommt davon.
Die Abneigung gegen das Dienen dringt nicht nur in immer weitere, sie dringt auch in immer höhere Bereiche, sie dringt sogar bis in die höchsten geistigen Bereiche vor. Das bezeugen unter anderem die Plakate, auf denen die Konzerte angekündigt werden. Das Beherrschende darauf ist die wuchtige Buchstabengruppe des Dirigenten- oder Solistennamens. Diese Namen bilden den Blickfang. Auf sie kommt es an. Die Namen der Komponisten und die Bezeichnungen der Werke, die aufgeführt werden sollen, sind so klein gedruckt, dass man sie manchmal erst suchen muß. Auf sie kommt es nicht an. Die meisten der modernen Dirigenten und Solisten können gar nicht mehr von sich absehen und dem Werk dienen, und sie wollen es auch nicht. Je begabter sie sind, um so weniger wollen sie es in der Regel. Sie stellen sich und ihre Auffassung in befremdender Selbstherrlichkeit nicht unter, wie es sich gehört, sondern über das Werk. Und das Publikum erwartet es auch nicht anders. Es kultiviert den Größenwahn der Stars. Der Dienst am Werk ist nicht gefragt.

Quelle: Mach ein Fenster dran, Heinz Schäfer, Beispiel 948
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