Zwischenzeit der Gemeinde

Wieso kann man sagen, dass in Dan. 9 zwischen der neunundsechzigsten und der siebzigsten Jahrwoche die „Zwischenzeit“ der Gemeinde liege, so dass die siebzigste Jahrwoche noch in der Zukunft liegt? Schließt nicht die bestimmte Zahlen- und Zeitangabe eine Einschaltung aus? Wenn in dieser zahlenmäßig genau spezialisierten Weissagung, in der die Zahlen und Zeiten gerade das eigentliche Thema sind, ein Zeitraum von wenigstens neunzehnhundert Jahren verschwiegen wäre, wie kann dann Daniel sagen: „Und er (‚der Mann Gabriel‘, V. 21) gab mir Verständnis“? Oder bezieht sich etwa die siebzigste Jahrwoche auf die Zeit des Messias?

Antwort A

Ehe wir zur eigentlichen Antwort auf diese Frage kommen, ist es notwendig, festzustellen, ob die Trennung der siebzigsten Woche von den anderen und die Einschaltung der Zeit der Versammlung (Gemeinde) zwischen die neunundsechzigste und die siebzigste Woche nach der Schrift in Frage kommt oder nicht. Für diese Feststellung kommt es darauf an, ob man die V. 24 genannten Dinge - das Zum-Abschluß-Bringen der Übertretung usw. - als durch das Opfer Christi am Kreuze zustande gebracht ansieht - das „Allerheiligste” im geistlichen Sinne gedacht -, wie manche Ausleger es tun, oder ob man sie als unmittelbar auf das Volk Israel bezüglich und an diesem als Volksganzem in Erscheinung tretend betrachtet, mit einem sichtbaren „Allerheiligsten” (s. Hes. 41,1-4; 43,7a; 45,3); und wen man in V. 27 unter dem „er” und was für einen Bund man unter dem dort erwähnten „Bund” versteht. Es gibt eine Auffassung, die - von der vorstehend zu V. 24 erwähnten Erfüllungsauffassung ausgehend - das „er” auf den „Messias” (V. 26) bezieht und in dem „Bund” den „Neuen Bund” nach Jer. 31,31ff. erblickt und das Aufhören der „Schlachtopfer und Speisopfer” dahin deutet, dass durch das Opfer Christi am Kreuze, welches nach der Berechnung dieser Ausleger in die Mitte der siebzigsten Jahrwoche fiel, die nur auf dieses Opfer hinweisenden „Schlachtopfer und Speisopfer” ihre Erfüllung gefunden hatten und es daher ihrer Darbringung nicht mehr bedurfte. Gegen diese Auffassung zu V. 24 und 27 gibt es jedoch wichtige Einwendungen: Der Wortlaut des V. 24 besagt klar, dass die genannten Dinge das Volk und die heilige Stadt Daniels, also das Volk Israel und die Stadt Jerusalem, betreffen, und zwingt zu dem Schlusse, dass die bezeichneten Dinge mit ihrem Eintritt auch tatsächlich an diesem Volk und dieser Stadt wahr sind und in Erscheinung treten! Ist letzteres geschehen? Wer könnte diese Frage wohl anders als mit einem bestimmten „Nein!” beantworten? Wohl ist in dem vollbrachten Werke Christi am Kreuze die Grundlage für alles dieses gelegt, aber keineswegs ist die Übertretung” des Volkes Israel und der Stadt Jerusalem mit der Vollbringung des Werkes Christi „zum Abschluß gebracht” und „den Sünden ein Ende gemacht”, sondern das Volk und die Stadt haben darin weiter beharrt bis zur Zerstörung Jerusalems, und das zerstreute Volk bleibt noch immer in seinen Sünden! Auch das „Sühnen der Ungerechtigkeit” und das „Einführen einer ewigen Gerechtigkeit” hat Israel als Volk noch nicht erfahren, weil es noch nicht zum HERRN umgekehrt ist (s. Röm. 11,25-27; 2. Kor. 3,14-16), und ebensowenig weiß es bis jetzt von einem „Versiegeln von Gesicht und Propheten”, noch ist „ein Allerheiligstes gesalbt”, da der Tempel zerstört und das Volk zerstreut ist. Die Worte „ein Alterheiligstes zu salben” anders zu deuten als auf ein sichtbares „Allerheiligstes”, wie Daniel und „sein Volk” es kannten, liegt gar kein Grund vor und ist gegen den hier herrschenden Gedanken, denn es handelt sich hier nicht um unser Teil als Erlöste himmlischer Berufung, sondern um das Volk Israel und dessen Wiederherstellung und Segnung, wie dies im Tausendjährigen Reich gesehen werden wird. Dann wird Israel wieder ein „Allerheiligstes” haben, wie die oben bereits erwähnten Stellen im Buche Hesekiel deutlich zeigen. Es ist also völlig klar, dass alles, was in V. 24 für das „Volk” - Israel - und die „heilige Stadt” - Jerusalem - für den Ablauf der siebzig Wochen zugesagt ist, noch nicht seine Erfüllung gefunden hat. Mithin können auch die siebzig Wochen noch nicht abgelaufen sein. Dass sieben und zweiundsechzig, zusammen also neunundsechzig, Wochen abgelaufen sind, ergibt sich bestimmt aus V. 25, so dass es sich bezüglich der an den vollen siebzig Wochen noch fehlenden Zeit nur noch um die letzte, die siebzigste, Woche handeln kann. - Wenn - nach der vorerwähnten Auslegung - die Erfüllung der für den Ablauf der siebzig Wochen zugesagten Segnungen mit der Vollbringung des Werkes Christi am Kreuze eingetreten sein soll, musste also der Zeitpunkt des Kreuzestodes Christi das Ende der siebzigsten Woche sein, denn wenn Gott sagt „siebzig Wochen”, dann sind es auch siebzig und nicht nur neunundsechzig oder neunundsechzig und eine halbe! Bei der Auslegung des V. 27 aber sagen dieselben Ausleger, dass der Kreuzestod Christi in die Mitte der siebzigsten Woche falle („und zur Hälfte der Woche wird Er Schlachtopfer und Speisopfer aufhören lassen” - s. hierzu weiter oben). Hier ist also ein Abweichen von dem klaren Wortlaut des V. 24 („siebzig Wochen”!) und somit ein innerer Widerspruch! - Dann weiter, den „Bund” betreffend: Wenn dieser Bund der „Neue Bund” sein soll, ergeben sich Schwierigkeiten, die für uns unüberbrückbar sind: Nimmt man den Wortlaut der „Elberfelder” Übersetzung an: „Und Er wird einen festen Bund mit den Vielem schließen (für) eine Woche”, dann wäre der „Neue Bund” dreiundeinhalb Jahre vor dem Kreuzestode des HERRN geschlossen worden (da ja nach jener Auslegung der Tod des HERRN in die Mitte dieser „Woche” gelegt wird), und nur für „eine Woche”, also sieben Jahre (wie soll letzteres vereinbar sein mit dem „Neuen Bunde” nach der Schrift?!). Nimmt man aber den Wortlaut der Lutherübersetzung: „Er wird aber vielen den Bund stärken eine Woche lang”, dann müßte der „Neue Bund” bereits bestanden haben, denn „stärken” kann man doch nur etwas, das bereits besteht! Und wenn man in dieser Verbindung das „eine Woche lang” auf den Dienst des HERRN von Seiner Taufe an bezieht, wo bleibt dann das „stärken” in der zweiten Hälfte dieser „Woche”, da doch (nach dieser Auslegung) der Tod des HERRN in der Mitte dieser „Woche” erfolgte? Und warum überhaupt „eine Woche lang” (sieben Jahre)? Warum nicht nur dreiundeinhalb Jahre, die Dauer Seines öffentlichen Diensten oder, wenn darüber hinausgehend gedacht, warum dann nicht länger als sieben Jahre? Aber nun noch die Hauptschwierigkeit betreffs des „Bundes”: Wenn es der „Neue Bund” ist, den (nach jener Auslegung) der HERR „mit den Vielen” geschlossen hat - der demnach seitdem besteht! - oder den Er „vielen gest ärkt” hat - der also damals sogar bereits bestand! -, wo ist dann die Erfüllung dessen, was in Jer. 31,1-14 und 23-34 und Hes. 37,21-28 in Verbindung mit dem „Neuen Bunde” dem Hause Israel verheißen ist - wo sind die dort genannten Segnungen äußerer und innerer Art? Ja, wo ist das Volk, mit dem nach Jer. 31,31 dieser „Neue Bund” gemacht werden soll - das „Haus Israel” und das „Haus Juda”, mit deren Vätern der Alte Bund gemacht worden war, den sie gebrochen haben (V. 32); welche infolge ihrer Untreue und infolge der Verwerfung ihres Messias unter alle Nationen zerstreut worden sind und aufgehört haben, eine „Nation” zu sein, aber dann, wenn dieser „Neue Bund” mit ihnen gemacht werden wird, wieder gesammelt sein werden und nach V. 35.36 nicht aufhören sollen, „eine Nation zu sein” vor Seinem Angesicht alle Tage, solange nicht die V. 35 genannten Ordnungen vor Seinem Angesicht weichen werden? Von den Segnungen ist noch nichts zu sehen (von den uns geschenkten geistlichen Segnungen ist hier nicht die Rede), und das Volk ist noch nicht gesammelt aus den Nationen und noch keine „Nation”, sondern ist noch zerstreut, gehaßt und verfolgt, und sie sind noch unter dem „Zorn” (Dan. 8,19; 9,16; 11,36), der „völlig über sie gekommen” ist! (1. Thess. 2,16) Darum kann unmöglich der „Neue Bund” bereits gemacht sein und kann sonach unmöglich der Dan. 9,27 genannte „Bund” der „Neue Bund” sein! - Und mit welchem Recht kann man das „er” V. 27 auf den „Messias” deuten, von dem V. 26a gesagt wird, dass er nach den zweiundsechzig (mit den sieben zusammen neunundsechzig) Wochen „weggetan werden und nichts haben” wird (Elberfelder Übers.), „ausgerottet werden und nichts mehr sein” wird (Luth. Übers.), und von dem dann nichts weiter gesagt wird? Wie paßt das V. 27a Gesagte zusammen mit jemand, der „weggetan” oder „ausgerottet” ist und „nichts hat” oder „nichts mehr ist”? Kann ein solcher „einen festen Bund schließen” oder „einen Bund stärken”? Aber vor dem „er” in V. 27 ist in V. 26b von einem „Fürsten” die Rede, und anschließend an das in Verbindung mit diesem „Fürsten” Gesagte heißt es dann V. 27: „Und er wird ...”, so dass es das Nächstliegende und Natürliche ist, dieses „er” auf diesen „Fürsten” zu beziehen. Es auf den „Messias” zu beziehen ist gezwungen, und dazu kommt noch der darin liegende Widerspruch, dass der „Messias” den betreffenden „Bund” „für eine Woche” geschlossen oder „eine Woche” gestärkt haben soll, in der Mitte dieser „Woche” aber gekreuzigt worden sein soll. Letzteres angenommen: Warum dann „einen Bund (und noch dazu den „Neuen”!) schließen für eine Woche”? oder: Wieso konnte Er dann „den Bund stärken eine Woche lang”? -

Nach all dem sehen wir uns bei der Auslegung dahingehend, dass die siebzig Wochen erfüllt seien, also auch die siebzigste Woche in der Vergangenheit liege, unüberwindlichen Schwierigkeiten gegenüber, besonders wenn wir im Auge behalten, dass es sich bei dieser Weissagung in keiner Weise um die Versammlung (Gemeinde), sondern um das Volk Israel - jetzt unter dem Namen „Juden” bekannt - und um die Stadt Jerusalem handelt, was ja aus dem ganzen Wortlaut und Zusammenhang klar ersichtlich ist.

Sehen wir uns nun einmal die Weissagung selbst kurz an: V. 24 wird gesagt, dass „siebzig Wochen” (Jahrwochen, also 490 Jahre) über das Volk und die Stadt bestimmt sind, um die dann angeführten Dinge herbeizuführen. Diese siebzig „Wochen” rechnen nach V. 25 „vom Ausgehen des Wortes, Jerusalem wiederherzustellen und zu bauen”, an (nicht, wie Mauro in seinem Buche „Die Chronologie der Bibel” schreibt, von dem Erlass des Cyrus an, das Haus Jehovas wieder aufzubauen, Esra 1,1-4. Es handelt sich nicht um das Haus, den Tempel, sondern um die Stadt, wie der zweite Teil des V. 25 auch zeigt: „Straßen und Gräben werden wiederhergestellt und gebaut werden”.). Das war im zwanzigsten Jahre des Königs Artasasta (Artaxerxes I.), Neh. 1,1ff.; 2,1.5-8, d. i. im Jahre 457 v. Chr. nach der geltenden Zeitrechnung. Von dieser Zahl gehen 4 Jahre ab, um welche die Geburt des HERRN in Wirklichkeit früher liegt, so dass 453 Jahre bis zur Geburt des HERRN bleiben. Dazu kommen 30 Jahre ungefähres Alter des HERRN bei Beginn Seines öffentlichen Dienstes nach Lk. 3,23, wodurch sich 483 Jahre ergeben, gleich neunundsechzig Jahrwochen. Das stimmt mit V. 25 überein, wo es heißt: „Vom Ausgehen des Wortes, Jerusalem wiederherzustellen und zu bauen, bis auf den Messias (eigentlich: bis auf den Gesalbten, einen Fürsten) sind sieben Wochen und zweiundsechzig Wochen” (also zusammen neunundsechzig Wochen). Nach der allgemeinen Annahme sind die sieben Wochen (49 Jahre) die Zeit, während welcher „Straßen und Gräben wiederhergestellt” worden sind „in Drangsal der Zeiten” (V. 25, Schluß), und die zweiundsechzig Wochen (434 Jahre) die darauf folgende Zeit bis zur Taufe des Herrn Jesus. Diese zusammen neunundsechzig Wochen sind also mit dem Beginn des öffentlichen Dienstes des Herrn Jesus, der mit Seiner Taufe seinen Anfang nahm, erfüllt. Hier bei neunundsechzig Wochen angelangt, die zwar in zwei Abschnitte geteilt, aber doch sichtbar zusammenhängend sind, unterbricht in V. 26 der Geist Gottes die Beschreibung der siebzig Wochen, um etwas einzufügen, was infolge der Nichtannahme und schließlich völligen Verwerfung ihres Messias seitens Seines Volkes sich augenfällig hier zwischen die neunundsechzig Wochen und die noch fehlende siebzigste Woche einschiebt und dadurch eine Unterbrechung in der Kette der siebzig Wochen herbeiführt, so dass die letzte, siebzigste Woche von den neunundsechzig abgetrennt und für eine hier nicht umgrenzte Zwischenzeit Raum gemacht wird. „Nach den zweiundsechzig Wochen wird der Messias weggetan werden und nichts haben”. Das hat am Kreuze seine Erfüllung gefunden. Der Herr Jesus ist dort „weggetan” worden, und von allem, was Ihm als „Messias” gehört, hat Er nichts! „Und das Volk des kommenden Fürsten wird die Stadt und das Heiligtum zerstören”: Das ist im Jahre 70 durch die Römer geschehen. Sie sind „das Volk des kommenden Fürsten”. (Vgl. Joh. 11,48) Der Fürst selbst, um den es sich hier handelt, war damals noch nicht da und ist es auch jetzt noch nicht, aber die Römer, welche die Stadt und das Heiligtum zerstörten, waren das Volk, dessen überhaupt dieser „kommende Fürst” sein wird. Das Römische Reich ist untergegangen, aber die Offenbarung zeigt uns, dass es einst wieder da sein wird (Off. 13,1-8 und 17,7-14), und dieses wiedererstandene Römische Reich wird unter einem Fürsten stehen, der dann eine hervorragende Rolle spielen wird. Dieser ist der „kommende Fürst”. Und dieser „kommende Fürst” ist es, auf den das „er” in V. 27 sich bezieht: „Er wird einen festen Bund mit den Vielen schließen.” Die „Vielen” sind die Juden, das dann wieder in Palästina als eine Nation vorhandene Volk Israel, und sie werden diesen Bund schließen in der Hoffnung, sich dadurch vor den sie bedrängenden feindlichen Mächten zu schützen. Dieser Bund wird „für eine Woche” (sieben Jahre) geschlossen werden. Das ist die an den siebzig Wochen noch fehlende siebzigste Woche. Dieser Verbündete der Juden wird einen bestimmenden Einfluß über sie ausüben, wie auch Off. 13 zeigt, und wird „zur Hälfte der Woche” veranlassen, dass der von den Juden wieder eingerichtete Gottesdienst - „Schlachtopfer und Speisopfer” - aufhören und „der Greuel der Verwüstung” „an heiligem Orte” aufgerichtet wird (vgl. Mt. 24,15), wie es im Hinblick auf das Offenbarwerden und Wirken des „Menschen der Sünde”, des „Sohnes des Verderbens” - des Antichristen - 2. Thess. 2,3-11 uns vorgestellt wird. Die zweite Hälfte dieser Jahrwoche steht dann unter diesem furchtbaren Zeichen und ist die Zeit, welche die „große Drangsal” genannt wird. (S. Mt. 24,15-31) - Die ebenfalls verbreitete Ansicht, das „er” in V. 27 beziehe sich auf den Antichristen, ist vollkommen unbegründet, denn von dem Antichristen ist hier nicht die Rede, und „der kommende Fürst”, von dem wir gesprochen haben und auf den nach unserer Überzeugung das „er” sich bezieht, ist nicht der Antichrist, sondern dessen Verbündeter. Denn der Antichrist wird nicht das Oberhaupt des Römischen Reiches, sondern der König der Juden sein während jener Zeit - „der König”, von dem Kap. 11,36-39 gesprochen wird -, „den der Herr Jesus verzehren wird durch den Hauch Seines Mundes und vernichten durch die Erscheinung Seiner Ankunft”. (2. Thess. 2,8) So wie der HERR der wahre Prophet, der wahre Messias und der wahre König Israels ist, so wird auch der Antichrist beanspruchen, alles dieses zu sein, und so wie der Herr Jesus aus dem Stamme Juda war, aus dem Samen Davids, so kann auch der Antichrist unmöglich aus einem anderen Volke sein, sondern nur aus den Juden, da er ja sonst gar nicht den Anspruch erheben könnte, der „Prophet”. der Messias und der König Israels zu sein! (S. 5. Mose 18,15.18; Micha 5,1) Deshalb ist Off. 13 auch nicht das „Tier” aus dem „Meere” (V. 1-10) der Antichrist, sondern das „Tier” aus der „Erde”, der aber hier nicht der Antichrist, sondern dem Charakter nach, welcher hier besonders hervortritt, Kap. 19,20; 20,10 der „falsche Prophet” genannt wird. Der Mangel an Raum verbietet uns, weiter auf diese Dinge einzugehen. -

Wie schon weiter oben festgestellt, kann es gar nicht anders sein, als dass die siebzigste Jahrwoche noch in der Zukunft liegt, weil die für den Ablauf der siebzig Wochen zugesagten Segnungen - die völlige Wiederherstellung des Volkes Israel als Volk und die Erfüllung aller ihm gemachten Verheißungen (und „Gott ist treu” - „was Er zusagt, hält Er gewiß!”) - noch nicht eingetreten sind. Hier an das zu denken - wir wiederholen es -, was uns durch den Tod und die Auferstehung Christi erworben ist, und damit diese Weissagung erfüllt zu sehen, entspricht nicht dem Sinne der Schrift, denn es ist hier nicht von der Versammlung (Gemeinde) die Rede - überhaupt nie im Alten Testament, außer in Vorbildern -, sondern von dem Volke Israel! Und wenn es eine Tatsache ist, dass die siebzigste Woche noch in der Zukunft liegt, dann ist eben die ganze Zeit vom Ende der neunundsechzigsten bis zum Beginn der siebzigsten Woche eine Einschaltung. Es ist die Zeit, in welcher der Herr Jesus Seinen öffentlichen Dienst tat, das Werk am Kreuze vollbrachte, die Versammlung gebildet wurde und vollendet werden wird, die Entrückung geschehen wird und nach dieser das an den Voraussetzungen für den Eintritt in die letzte Jahrwoche dann etwa noch Fehlende sich vollziehen wird. Darum wird auch von uns, die wir in dieser eingeschalteten Zeit leben, als denen gesprochen, „auf welche das Ende der Zeitalter gekommen ist”. (1. Kor. 10,11)

Nun kommen wir zur eigentlichen Antwort auf die gestellte Frage. Der erste Teil der Frage hat im Vorstehenden bereits seine Beantwortung gefunden. Den zweiten Teil möchten wir so beantworten: Die bestimmte Zahlen- und Zeitangabe schließt keineswegs eine Einschaltung aus, ebensowenig wie die jemandem gemachte Zeitangabe, dass von einem gewissen Ort nach einem anderen soundso viele Stunden Wegs sind, ausschließen würde, dass der Betreffende an einem Orte kurz vor dem Endziele erkrankt und dort eine Zeitlang aufgehalten wird, und erst dann seine Reise beendet. Die Reise selbst dauert so viele Stunden, wie ihm angegeben war. Die Verzögerung infolge seiner Erkrankung kurz vor dem Ziele ist eine Einschaltung, die aber an der Richtigkeit der ihm gemachten Angabe durchaus nichts ändert. Die Unterbrechung in der Erfüllung der siebzig Wochen ändert nichts an der Richtigkeit der dem Daniel gemachten Zahlen- und Zeitangabe, denn es heißt: „Siebzig Wochen sind ... bestimmt”, womit nur gesagt ist, dass soviel Zeit für das vorgesehen ist, was Gott mit dem Volke und der heiligen Stadt vorhat, ehe Er die erwähnten Segnungen geben kann. Es ist damit nicht gesagt, dass diese siebzig Wochen unbedingt zusammenhängend sein müßten. Neunundsechzig Wochen sind zusammenhängend abgelaufen, obwohl sie auch in zwei Abschnitte - sieben Wochen und zweiundsechzig Wochen - eingeteilt sind. Die siebzigste Woche ist infolge der Verwerfung des Messias auf später verschoben. Daniel über die dazwischen eingeschaltete Zeit zu unterrichten lag kein Anlass vor, da für ihn es sich ja nur um „sein Volk” und „seine heilige Stadt” handelte (abgesehen davon, dass er die Zeit der Versammlung [Gemeinde] ja auch gar nicht hätte verstehen können, weil die Versammlung ein Geheimnis war, welches „von den Zeitaltern her verborgen war in Gott”, wie es Eph. 3,9 heißt. Selbst der Herr Jesus übergeht in Seinen prophetischen Mitteilungen über die letzte Zeit die Zeit der Versammlung völlig: Mt. 10 und 24; Mk. 13; Lk. 17,20ff.; 20,9ff.). Das „Gesicht” erstreckte sich nur auf die Dinge des Volkes und der heiligen Stadt Daniels - das, was ihn anging -, und darüber gab „der Mann Gabriel” ihm Verständnis, wie wir dann in den folgenden Kapiteln weiter finden. Auch scheint es uns nicht ausgeschlossen, dass Daniel durch das V. 26 ihm Gesagte wohl verstand, dass vor der siebzigsten Woche infolge der Verwerfung des Messias eine Unterbrechung und dadurch eine Hinausschiebung der siebzigsten Woche - und somit der Enderfüllung des V. 24 Gesagten - eintreten würde, nur dass er die Dauer dieser Unterbrechung nicht kannte, weil das nicht seine Sache war. - Der Schluß der Frage hat ebenfalls bereits seine Beantwortung in dem weiter oben Ausgeführten gefunden. -
Möchte es dem Geiste Gottes gelingen, auch uns immer mehr Verständnis über die Gedanken Gottes mit uns selbst wie auch mit Seinem irdischen Volke und den anderen Menschen durch Sein Wort zu geben!
Th. K.

Bemerkungen des Schriftleiters

Diese tiefgründige Antwort wird hoffentlich dem Frageeinsender, der selbst ein bekannter Schriftforscher ist, gute Dienste leisten, doch nicht nur ihm, sondern allen, die sich die Mühe des gründlichen Durcharbeitens derselben geben!

Ich habe leider, da unterwegs auf Reisen im „Werke des HERRN”, nicht die Zeit und auch nicht die Hilfsmittel (z. B. weder den hebräischen Text noch auch außer Luth. und Elberf. andere Übersetzungen), um längere Erweiterungen obiger Antwort geben zu können, aber ich denke auch, es bei einigen Bemerkungen bewenden lassen zu sollen, da m. E. die Antwort unseres Mitarbeiters für uns genügen dürfte. Übrigens haben sich „Handreichungen” schon mit diesen Gegenständen befaßt, wie der fleißige Leser finden wird (Schriftstellenverzeichnisse durchsehen!), so z. B. im 5. Jahrb. in Frage 24 und im 16. Jahrb. in dem Aufsatz „Die Ereignisse am Ende der Tage usw.

Also nur noch einige Bemerkungen, insbesondere zu der Frage, die dem Einsender seinem Briefe nach mit am meisten Schwierigkeit macht: wie die Schrift sagen könne, dass dem Daniel Verständnis (über die Zahlen?) gegeben sei, während doch bei der in Frage stehenden Auffassung anscheinend eine so große Einschaltung verschwiegen geblieben sei. Dadurch sei doch das Verständnis außerordentlich erschwert, bzw. Daniel habe doch in Wirklichkeit eigentlich gar kein Verständnis bekommen!? - Und dann führt der geschätzte Fragende ein Beispiel an, welches - wenn die Sache sich so verhielte - allerdings zugunsten seiner Vermutung reden könnte, dass nämlich die Annahme des noch Ausstehens der 70. Jahrwoche nicht unbedingt richtig sei. Er sagt, wenn einer frage, wie weit es von einem Ort bis zu einem anderen sei, und es würde dann etwa geantwortet: 3 km, und dann noch 25 km und dann nochmals 3 km - in Wirklichkeit läge aber zwischen den 25 und den 3 km ein verschwiegener Zwischenraum von noch 60 km - so sei die Angabe nicht nur höchst ungenau, sondern auch (absichtlich) irreführend, da die Entfernung - statt 31 - 91 km betrage. Wenn man dies Beispiel auf Daniel 9,24-27 übertrage, wo 1900 Jahre verschwiegen seien, so käme man dahin, eine andere Bedeutung der Stelle zu suchen, also z. B. die des möglichen schon Erfülltseins. (Beiläufig: ich denke, dass es unserem teuren Mitarbeiter gelungen ist, die etwaige Möglichkeit, die Stelle als zur Zeit des Messias erfüllt anzusehen, als gänzlich abwegig gezeigt zu haben!) Sehen wir uns diese Sache noch ein wenig an! Unser Mitarbeiter hat ja dazu auch eine schöne Erklärung gegeben an dem Beispiel von dem unterwegs krank Gewordenen, der infolge seiner Krankheit das Ziel nicht habe in der angegebenen Zeit erreichen können, in Wirklichkeit aber sei der Weg nicht länger (für einen Gesunden nämlich!). Diese Erklärung ist doch einleuchtend!

Wenn ich nun zunächst davon absehe, zu betonen, oder es nur beiläufig tue, dass es sich tatsächlich doch nur um „Daniels Volk und seine heilige Stadt” handelt (V. 24), was aber wirklich die Hauptsache dabei ist!), dann tue ich es deswegen, um die angefragte Sache selbst um so vorurteilsloser prüfen zu können.
Zuerst frage ich: Ist es erlaubt, Raum und Zeitentfernungen ohne weiteres gleichzusetzen, d. h. eine körperliche Sache nicht zum Vergleich, sondern zum Beweis für eine geistige zu nehmen? Ich frage so, weil der Fragende ein bekannt tiefer Denker ist. Er denke dem nach! Aber weiter! eine solche Antwort: erst 3 km, dann 25, dann nochmals 3, hätte nur dann einen Sinn, wenn gesagt würde: bis A. 3 km, dann bis B. 25 km, dann noch bis C. 3 km, sonst wäre die Antwort unsinnig und die Spezialisierung überflüssig und verkehrt! Es würde auch nie einer so antworten, sondern er würde bei Kenntnis der Entfernung ohne weiteres sagen: 31 km!
Und noch eins! Bei solcher Antwort müßte sich der Antwortende gefallen lassen, gefragt zu werden: „Nanu, was für eine merkwürdige Auskunft! Warum sagen Sie nicht gleich 31? Da ist wohl noch ein Haken dabei, oder Sie wissen selber nicht recht Bescheid?!

Genug mit diesen Einwendungen! Ich möchte nur damit sagen, was der Frager wohl längst fühlt, dass es höchst gewagt ist, die klaren Aussagen der Schrift, auch an dieser Stelle, in ein solches menschliches Verstandesschema hineinbringen zu wollen! Wenn der Engel dem Daniel über das Gesicht von Kap. 8 - also nicht über eine erzählte Geschichte! - „Verständnis” geben soll und es mit solchen scharf abgegrenzten Zahlen tut, dann ist mir ohne Frage, dass dem Daniel damit wirklich Verständnis gegeben ist, womit aber nicht zugleich uns! Sondern für uns (denen nicht gesagt ist „euer Volk” und „eure heilige Stadt”!) kommt Kap. 12,4 u. 10 in Betracht, d. h. unser stückweises Verständnis ist von anderen Faktoren abhängig als das der Propheten! Die Propheten hatten eine eigene Art des Nachforschens über die ihnen inspirierten Dinge, vgl. 1. Petr. 1,10ff.!, aber die dem Daniel gegebenen Verheißungen bekamen doch noch eine über jenes eigene Forschen hinausgehende Erklärung, weil er ein „Vielgeliebter” war (V. 23), dem Verständnis gegeben werden sollte. Darum ward ihm (nicht uns) eigens einer der höchsten Engel gesandt. Wir, auf die „das Ende der Dinge” gekommen ist, wir, die wir vor allem die Gemeinde kennen und kennen müssen (Eph. 8!), wir buchstabieren länger an jener dem Daniel gegebenen Erklärung, da wir mit der Einschaltung verknüpft sind, von der ein Daniel auf Erden nichts zu wissen brauchte, war doch für ihn die Lösung so nahe: in der Ruhe von Kap. 12,13! (Vgl. die Kenntnis der Männer in Lk. 9,31!) Was ihn, solange er hienieden weilte, und was „sein Volk” und „seine Stadt” anging, das ward ihm mit einer erschütternden Deutlichkeit gesagt, und ich bin fest überzeugt, dass er, der doch auch das Buch des Propheten Hosea kannte mit Kap. 1,9 („Nicht Mein Volk!”), wenigstens in großen Zügen es verstand. Nur 70 (Jahr-)Wochen gingen ihn an, gehen sein Volk an! Und zwar 7 und 62 und eine! Wir mögen mit Recht darüber nachsinnen! Da wir die Jahreszahl des Beginnes wissen (457 v. Chr.), so ist uns das Ausrechnen leicht gemacht, aber nicht das Erklären! Diese Angabe 7 + 62 ist doch höchst geheimnisvoll in ihrer Bedeutung, und schon diese eigenartige Spezialisierung sollte uns den Mut nehmen, allzu schnell mit (leicht) neutestamentlich gefärbten Erklärungen bei der Hand zu sein. Wir sind nicht Daniel, der „Verständnis” bekam, und zwar nicht über die Zahlen selber, sondern über das Gesicht und die Ereignisse, die „sein Volk” und „seine heilige Stadt” betreffen würden - und wie klar sind diese dargestellt! Und m. E. wie klar geht aus diesen hervor, dass die 70. Woche noch nicht gewesen sein kann! Denn wenn der Ausdruck „nach den 62 Wochen ...” in sich schließen sollte: „nun folgen die Ereignisse der 70. Woche”, dann müßte es heißen „nach den 69 Wochen”!! Das beachte man wohl! (Ich habe das nicht irgendwo gelesen, ich habe, wie gesagt, gar keine Hilfsmittel hier, aber der Ausdruck, der Ausdruck!! Die Schrift ist doch stets ihre eigene Auslegerin!)

Und noch eins zur Beachtung! Wieder und wieder heißt es: „bis ans Ende” und „Festbeschlossenes”! (Z. B. V. 26.27; vgl. „zur bestimmten Zeit” 11,27.29 und anderswo.) Diese und ähnliche Ausdrücke zeigen doch, dass eben dieses „Festbeschlossene”, das „am Ende” kommen wird, keinesfalls im Rahmen oder in Verbindung mit dem Ablauf der 7 + 62 Wochen eintreten kann, da doch nicht von dem Weggetanwerden, „Ausgerottetwerden”, „Vernichtetwerden” des Messias usw. als von „Festbeschlossenem” geredet wird, sondern von Dingen anderen Charakters! „Bestimmt” aber sind 70 Wochen (V. 24), und wenn diese voll sind, dann sind jene 6 herrlichen Dinge von V. 24 auch vollendet.

Ich kann aus Raummangel meine „Bemerkungen” nicht weiter ausführen, so nahe es mir läge, noch ein wenig auf die mir ungemein wunderbare Stelle einzugehen, die mir freilich erst klargeworden ist, als ich die Lehre von der Einschaltung (der Gemeinde) zwischen der 69., d. h. der 7. + 62., und der 70. Woche kennenlernte, dann aber auch sonnenklar. Aber es ist mein Gebet, dass diese 1. Frage des neuen Jahrbuchs der „Handr.” vielen Licht gebe zur Ehre unseres herrlichen HERRN, der uns das kostbare Buch Daniel geschenkt hat. Er gebe uns Gnade, wirklich nach Kap. 12,4 zu handeln in Treue und mit geistlichem Eifer! Nie bleibt unsere eifrige Treue im Schriftforschen uns unbelohnt!
Wohlgeläutert ist Dein Wort, und Dein Knecht hat es lieb!” (Ps. 119,140)
F. K.


Beantwortet von: Team Handreichungen
Quelle: Handreichungen - Band 18 (1933)