Die Theorie, das Evangelium des Markus sei als erstes geschrieben worden, beruht auf mehreren Argumenten. Der größte Teil des Materials bei Markus (ungefähr 93%) findet sich auch bei Matthäus und Lukas. Für manche ist es leichter zu glauben, daß Matthäus und Lukas Markus ergänzten, als daß Markus Matthäus und Lukas kürzte.
Manchmal stimmen Matthäus und Lukas wörtlich mit Markus überein, aber sie stimmen niemals miteinander überein, wo sie von Markus abweichen. Dies scheint zu beweisen, daß sowohl Matthäus als auch Lukas in ihren Informationen von Markus abhängig waren.
Die Reihenfolge der Ereignisse bei Markus scheint original zu sein. Wo immer die Reihenfolge bei Matthäus von Markus abweicht, bestätigt das Lukasevangelium Markus und wo Lukas von Markus abweicht, stimmt Matthäus mit Markus überein. Dies zeigt, daß das Markusevangelium zuerst verfaßt wurde und daß Matthäus und Lukas einfach seiner Anordnung folgen, da sie niemals gegen Markus übereinstimmen.
Markus offenbart seinen ursprünglichen Charakter auch, wenn man ihn mit den beiden anderen Evangelien vergleicht. So verwendet Markus z.B. das Wort kyrie (Herr) nur einmal, während Matthäus es 19 mal und Lukas 16 mal gebraucht. Diese Tatsache zeigt eine ehrfürchtige Haltung an, die sich in den späteren Evangelien entwickelte.
Das oben Gesagte stellt einige der Argumente dar, die Wissenschaftler anführen um zu belegen, daß das Markusevangelium zuerst verfaßt wurde. Doch bei näherer Untersuchung sind diese Beweise nicht so stichhaltig, wie man denken könnte.
Es ist möglich, daß Markus sein Evangelium aus Gründen, die uns nicht bekannt sind, gekürzt hat. Das Material, das die Evangelien gemeinsam haben, könnte das Ergebnis einer gemeinsamen mündlichen Tradition sein. Es ist durchaus möglich, daß Markus weder das Matthäus- noch das Lukasevangelium gelesen hat, bevor er sein eigenes Evangelium schrieb, und es ist ebenfalls denkbar, daß keiner der Evangelisten irgendeine der zwei anderen Schriften sah, ehe er sein Werk verfaßte.
Und was die Tatsache angeht, daß Matthäus und Lukas in parallelen Passagen niemals Wort für Wort gegen Markus übereinstimmen, so finden sich ebenfalls Stellen, an denen sie übereinstimmen, während Markus etwas anderes schreibt, was ihre Unabhängigkeit von Markus zeigt.
Die Vorstellung, daß die Reihenfolge bei Markus die ursprünglichere sei, ist nicht so offensichtlich, wie manche deuten. Markus könnte nach Matthäus und Lukas gearbeitet haben und dabei ihrer Anordnung gefolgt sein, wo die beiden übereinstimmen, sich aber entschlossen haben, jeweils dem einen oder anderen zu folgen, wo sie von einander abzuweichen schienen.
Das Wort kyrie (Herr) als Ausdruck der Ehrfurcht ist in Frage zu stellen, da Matthäus es siebenmal in Zusammenhang mit einem Menschen verwendet (13,27; 21,29; 25,11.20.22.24; 27,63), was zeigt, daß der Ausdruck nicht nur für Gott gebraucht wurde.
Dies macht deutlich, daß man eine Chronologie nicht aufgrund des Gebrauchs oder Nichtgebrauchs dieses Wortes errichten kann. Hinzu kommt die Tatsache, daß die frühe Kirche, die der Situation näher stand, sich einmütig für die Priorität des Matthäusevangeliums entschieden hat, da es keinen Beweis gab, daß Markus zuerst schrieb.
Darüber hinaus gibt es einige durchschlagende Gründe gegen die Theorie einer Priorität des Markus. Matthäus war ein Augenzeuge. Es scheint unnötig anzunehmen, er sei von Markus, der kein Augenzeuge war, abhängig gewesen, um Informationen über das Leben Christi zu erlangen, einschließlich Matthäus’ eigener Gespräche!
Die Theorie kann ebenfalls nicht erklären, warum Lukas jede Erwähnung von Markus 6,45 – 8,26 vermied, wenn er Markus als Quelle benutzte. Hier handelt es sich um einen sehr wichtigen Abschnitt, und die einfachste Lösung ist, anzunehmen, daß Lukas das Evangelium des Markus nicht vor sich hatte, als er sein Werk verfaßte.
Die Zweiquellentheorie erklärt nicht hinreichend, warum Matthäus und Lukas in gewissen Abschnitten übereinstimmen, wo Markus etwas anderes hat.
Die Theorie von der Priorität des Markusevangeliums ist alles andere als eine feststehende Tatsache.
Quelle: Aus dem Buch: "Das kann ich nicht glauben!", CLV Verlag, 1997