Wie ist Hebräer 12,4 zu verstehen?

Wie ist Hebräer 12,4 - zumal im Zusammenhang - zu verstehen?

Antwort A

Diese Stelle wird von manchen Kindern Gottes so aufgefaßt, dass wir, wenn Versuchungen zur Sünde an uns herantreten, „gegen die Sünde kämpfen” sollten. Wir glauben nicht, dass dieses der Sinn der Schriftstelle ist, weil an anderer Stelle uns gesagt wird, nicht dass wir gegen die Sünde kämpfen sollen, sondern dass wir sie fliehen sollen. Dem Teufel sollen wir „widerstehen”, wie wir in Jak. 4,7 und 1. Petri 5,8.9 lesen; aber betreffs der Sünde sagt uns das Wort immer wieder, dass wir sie „fliehen” sollen: „Fliehet die Hurerei!” (1. Kor. 6,18.) „Darum, meine Geliebten, fliehet den Götzendienst!” (1. Kor. 10,14.) „Die aber reich werden wollen, fallen in Versuchung und Fallstrick und in viele unvernünftige und schädliche Lüste ... Denn die Geldliebe ist eine Wurzel alles Bösen ... Du aber, o Mensch Gottes, fliehe diese Dinge ...” (1. Tim. 6,9-11.) „Die jugendlichen Lüste aber fliehe ...” (2. Tim. 2,22.) So sagt das Wort Gottes, und die Erfahrung jedes Kindes Gottes bestätigt die Richtigkeit dieser göttlichen Weisung: wenn wir gegen die Sünde kämpfen, werden wir immer bald die Erfahrung machen, dass die Sünde mächtiger ist als unsere Kraft, und werden ihr unterliegen; wenn wir sie aber fliehen, entgehen wir ihrer Macht und bleiben vor ihr bewahrt. Da hilft auch der Gedanke nicht, in der Kraft des Geistes gegen sie kämpfen zu wollen, und zwar darum nicht, weil der Geist ja gar nicht will, dass wir diesen Kampf kämpfen sollen, und deshalb uns in demselben nicht beistehen kann. Aber in dem die-Sünde-Fliehen wird Er uns Kraft darreichen!

Ein schönes Bild für das die-Sünde-Fliehen haben wir in 1. Mose 39,7-12 in dem Verhalten Josephs, der von dem Weibe des Potiphar wegfloh, als sie ihn durchaus zur Sünde verführen wollte (V. 12). Wir sind überzeugt, dass das die-Sünde-Fliehen der Weg ist nach Gottes Wort, vor dem Sündigen bewahrt zu bleiben. In dieser Sache führt nicht der Kampf zum Sieg, sondern nur das Fliehen! Wie ist es aber dann mit Hebr. 12,4?

Im Brief an die Hebräer handelt es sich um das Ausharren im Glauben und Standhalten in den Drangsalen und Prüfungen. Wie in allem war auch in diesem der Herr Jesus das vollkommene Vorbild, auf das in V. 1-3 das Auge gerichtet wird. Er hat in dieser Welt gelitten wie kein anderer Mensch, weil Er der Heilige und der Gerechte war. Diese Welt ist eine Welt der Sünde, und durch die Sünde eine Welt der Leiden und des Todes. Aber nicht nur dieses, sondern auch des Hasses und Widerspruches gegen Gott. Das hat der Herr Jesus in seiner ganzen Größe erfahren müssen. Er war „das wahrhaftige Licht, welches, in die Welt kommend, jeden Menschen erleuchtet” (Joh. 1,9), aber „die Menschen haben die Finsternis mehr geliebt als das Licht, denn ihre Werke waren böse” (Joh. 3,19), und der HERR musste von der Welt bezeugen, dass sie Ihn haßte (Joh. 7,7; 15,18), und nicht nur Ihn, sondern auch den Vater (Joh. 15,23.24). Und dieser Haß war so groß, dass sie Ihn den Felsen hinabstürzen wollten (Lk. 4,29), mit Steinen auf Ihn werfen wollten (Joh. 8,59), Ihn steinigen wollten (Joh. 10,31) und schließlich Ihn schlimmer als den größten Verbrecher behandelten - Ihn schlugen, verspotteten, anspien, geißelten, mißhandelten und verhöhnten, kreuzigten und noch am Kreuze lästerten und schmähten. Das war der „große Widerspruch”, den Er von den Sündern gegen Sich erdulden mußte. Und die treibende Kraft dieses „Widerspruchs” war die Sünde. Ohne sie wäre alles dieses nicht gewesen. So aber war sie die Macht, die in dem Menschen diesen großen Haß hervorrief und ihn zu diesem schrecklichen Tun antrieb. Und der HERR hat diesen „großen Widerspruch” erduldet und uns dadurch ein wunderbares Vorbild gegeben. Denn auch uns gegenüber ist die Welt jetzt eine feindliche Welt, die uns haßt und von der wir zu leiden haben, wenn wir unserem HERRN treu sind und der Welt die Wahrheit bezeugen (Joh. 15,18-21). Das ist eine Probe, die recht schwer sein kann, und es bestand für die Hebräer die Gefahr, dass sie mit der Zeit „ermüdeten, indem sie in ihren Seelen ermatteten”. Und wir sind in derselben Gefahr. Aber wenn wir Ihn betrachten, „der so großen Widerspruch von den Sündern gegen Sich erduldet hat”, dann werden wir immer wieder uns bewußt werden, dass unsere Leiden doch gar nicht zu vergleichen sind mit denen, die Er erduldete, und werden vor dem Ermüden und In-unseren-Seelen-Ermatten bewahrt und fähig gemacht, zu widerstehen, selbst „bis aufs Blut”, wofür die vielen Märtyrer ein Zeugnis sind. Sie haben „bis aufs Blut widerstanden”, und zwar „wider die Sünde ankämpfend”, indem es in Wirklichkeit die Sünde war, wie wir oben gesehen haben, die die Menschen zu dieser Feindschaft fähig machte und antrieb mit dem Ziele, die Erlösten von dem Wege des Gehorsams und der Treue gegen den Herrn abzubringen.

Es handelt sich also hier um die Sünde in einer ganz anderen Beziehung: nicht als die Macht, die auf uns eindringt, um uns zum Tun einer Sünde zu verleiten - da ist unsere Rettung und Sicherheit, wie wir anfangs festgestellt haben, uns nicht auf einen Kampf einzulassen, sondern zu fliehen! -, sondern als die Macht, die uns durch Leiden seitens einer feindlichen Welt von dem Wege des Gehorsams und der Treue gegen den HERRN abbringen will; und da gibt es kein Fliehen - das wäre hier nichts anderes, als ihr unterliegen -, sondern nur ein Wider-sie-Ankämpfen und Widerstehen durch unverrücktes Festhalten an dem Gehorsam und der Treue zum HERRN, wenn es sein muß, „bis aufs Blut”, d. h. bis zur Hingabe des Lebens. Gott wird die Kraft dazu darreichen, wann und wie wir ihrer bedürfen.
Das ist nach unserer Auffassung der Sinn von Hebr. 12,4.

In den folgenden Versen (5ff.) zeigt der Geist Gottes den Hebräern und jetzt uns die andere Seite der Leiden: Sie sind das Erziehungsmittel in Gottes Vaterhänden, das Er nach Seiner Liebe und Vollkommenheit an uns als Söhnen gebraucht. Das ist wahr von allen Leiden, welcher Art sie auch sein mögen, und ist sehr tröstlich und ermunternd für unsere Herzen.
Th. K.

Antwort des Schriftleiters

Ich hoffe, dass alle werten Leser mit mir unserem Gott und Vater dankbar sind für diese klare, einleuchtende Antwort! Dieselbe entspricht ganz meiner eigenen langjährigen Überzeugung, und ich habe derselben gerade in letzter Zeit mehrfach Raum gegeben, wo ich über diese Stelle zu reden hatte. Dabei habe ich vor kurzem etwa folgende Ausführungen machen dürfen: Wenn in dieser Stelle der Kampf gegen die Sünde (also gegen das persönliche Sündigen in Einzelfällen) gemeint wäre - was wäre dann darunter zu verstehen? Etwa leibliches Blutvergießen oder, wie man schon gehört hat, dass „einem das Blut unter den Nägeln hervorspritzt” (durch die Energie des Kampfes!) oder dass man Blutstropfen schwitzt, wie dem Herrn Jesus der Schweiß im Kampf in Gethsemane „wie große Blutstropfen” herniedergeflossen sei (Lk. 22,44!), oder was? Etwa wenn die biblische Lehre, dass im Blut die Seele des Menschen sei (3. Mose 17,11), diesem Worte Hebr. 12,4 zugrunde gelegt würde, wie wenn wir dann so gegen das Sündigen kämpfen sollten, dass die ganze Seele „dahinströmen” sollte, oder was? - Wenn irgend dergleichen der Wille Gottes wäre für den hier so gemeinten Kampf mit der Sünde, wenn irgend solche sozusagen materielle oder seelische Vorstellungen anzunehmen seien - wer dürfte dann je sagen, und von wem könnte dann je gesagt werden: Wir oder der und der hat schon „bis aufs Blut” Widerstand geleistet gegen die Sünde? Mit anderen Worten: Wenn solches „bis aufs Blut” Widerstehen gegen die Sünde den Hebräern und damit auch uns als sittliche Forderung auferlegt worden wäre - wann kämen wir dann je dahin, sagen zu können: „Nun habe ich's erreicht!? Nun bin ich soweit!”? - Wenn ich aber mit solchen Äußerungen des Kämpfens nicht aufwarten kann, werde ich dann je der Sünde Herr werden können? Wird der Kampf nicht derart aufreibend werden, dass ich verzagen muß, je das Ziel zu erreichen? Sicherlich, wenn das Ziel nämlich das ist, wie oben beschrieben (Blutfließen usw.). Aber das ist ja noch gar nicht einmal die Hauptsache, sondern die liegt doch ganz woanders, nämlich in dem Überwinden der Sünde! Wenn nun schon jenes Nebenziel als Etappe auf dem Wege zum Siege nicht erreicht wird, wenn ich also den Kampf nicht so führen kann, dass je das Blut (der Lebenssaft) dabei dahinfließt oder die Seele dahinströmt - nur Er, unser geliebter HERR, konnte Seine Seele ausschütten in den Tod, als Er Sein Blut zur Sühnung vergoß am Stamme des Kreuzes! (Jes. 53,12) -, also wenn schon das mir nicht einmal möglich ist, wieviel weniger werde ich vermögen, auf diesem so verzweifelten Wege die Sünde zu überwinden! Nutzloser, aussichtsloser Kampf wäre es für mich und bliebe es von Tag zu Tag. Nein, niemals sollten wir durch diese Stelle veranlasst werden, uns in solche Kämpfe mit der Sünde einzulassen. Warum auch?!

Die Sünde ist auf Golgatha nicht nur besiegt, sondern in Christo so aus dem Wege geräumt, dass wir uns durch Glauben derselben für gestorben erachten können und sollen, um für Gott in Christo zu leben. (Röm. 6.) Auf dieser herrlichen Grundlage können wir Sieger sein, im „Fliehen”, wie oben so schön in Antwort A beschrieben ist, und in Glaubensverwirklichung, dass „die Sünde nicht über uns herrschen wird” (Röm. 6,14). Was sollen wir uns mit dem besiegten Feind einlassen?! Damit verunehren wir den HERRN und schaden uns selbst, weil der Satan stets bemüht ist, uns aufs neue zu verstricken inDinge, denen wir nicht unterworfen zu sein brauchen, nachdem Christus, unser Siegesfürst, sie besiegt hat.

Anders aber ist es mit der Sünde, die hier in Hebr. 12,4 gemeint ist, die von außen auf die Hebräer eindrang und sie dahin zu bringen drohte, dass sie den HERRN verleugneten aus Furcht vor Leiden und sich des großen Vorrechts, mit Ihm zu leiden, nicht würdig erzeigten (vgl. Phil. 1,29f.). Da mahnt sie der Apostel mit dem, was die Glaubenshelden im Alten Testament alles erlitten hätten. Bei denen ging's tatsächlich oft bis zum Tode, bis zum Blutvergießen (vgl. Kap. 11,35-37), und bei dem HERRN Selber, der inV. 2 als unser Vorbild hier (nicht als Heiland) vor uns steht, da ging's wirklich bis zum Blutvergießen um des Kampfes für die Wahrheit willen (es handelt sich hier nicht um die Erlösung durch Sein Blut)! Aber es gab außerdem auch noch neutestamentliche Blutzeugen, so in Apg. 7 (Stephanus) und Kap. 12 (Jakobus). Bei den Hebräern dagegen, die auch schon manches erlitten hatten, so „mit Freuden den Raub ihrer Güter” (10,34; vgl. V. 32ff.), war es noch nicht bis zu diesem Äußersten gekommen, und doch, es könnte auch noch dahin kommen, und wie wollten sie dann durchhalten können, wenn sie jetzt schon in Gefahr waren, „ihre Zuversicht wegzuwerfen” (10,35) usw.! - Das ist also ein ganz anderer Kampf gegen die Sünde und eine ganz andere Art von Sünde oder „Widerspruch” (V. 3), die diesen andersgearteten Kampf erforderte, und dabei konnte man das Leben drangeben müssen! Dazu sollten sie bereit und fähig werden. Das, und nicht das andere, ist hier gemeint mit dem „Kampf gegen die Sünde”!

Und wir? Die Zeiten der Märtyrer sind vorbei, also brauchen wir diese Ermahnung nicht mehr? Wirklich? Wer weiß, was noch vor uns steht?! Aber was auch immer - es gilt auch uns: „Ihr bedürfet des Ausharrens!” (10,36.) Der HERR schenke uns Gnade dazu, wenn's auch um Seinetwillen dann vielleicht durch Tiefen, ja ins Äußerste hineingeht! „Es ist gut, dass das Herz durch Gnade befestigt werde!” (13,9.)

... lasst uns mit Ausharren laufen den vor uns liegenden Wettlauf, hinschauend (hinwegschauend von allem) auf Jesum, denAnfänger (d. i. Bahnbrecher) und Vollender des Glaubens ...” (V. 1.2), d. h. auf Ihn, unser erhabenes, nie versagendes Vorbild (auch) im Glaubenskampf!
F. K.


Beantwortet von: Team Handreichungen
Quelle: Handreichungen - Band 13 (1928)